Linzi Glass: Im Jahr des Honigkuckucks

„In meiner Kindheit gab es einen alten Nachtwächter, einen Zulu, zu dessen Füßen ich oft saß und mit großen Augen zuhörte, wenn er mir Geschichten seines Volkes aus früheren Zeiten erzählte“, schreibt Linzi Glass in einer Anmerkung zu ihrem Romandebut „Im Jahr des Honigkuckucks.“

Übersetzt von Ulli und Herbert Günther
München: Hanser 2010


„In meiner Kindheit gab es einen alten Nachtwächter, einen Zulu, zu dessen Füßen ich oft saß und mit großen Augen zuhörte, wenn er mir Geschichten seines Volkes aus früheren Zeiten erzählte“, schreibt Linzi Glass in einer Anmerkung zu ihrem Romandebut „Im Jahr des Honigkuckucks.“

Darin wird das autobiographische Ich zur Ich-Erzählerin Emily, für die die Geschichten des alten Mannes Überlebenshilfe sind. Denn die Familie des 12-jährigen Mädchens ist ein nur den äußeren Schein wahrender Kriegsschauplatz, an dem die Eltern ihre gegenseitigen Aversionen ohne Rücksicht auf die Kinder ausleben. Der Vater zieht sich in seine Arbeit zurück, die Mutter konzentriert sich auf ihr Äußeres und ihre Liebschaft. Beide haben weder Zeit noch Energie für Emily und ihre ältere Schwester Sarah, die unter der mangelnden Zuwendung leiden und sich umso enger miteinander verbunden fühlen.

Es ist der Frühling des Jahres 1966 in Südafrika. In dem großen Haus am Rand von Johannesburg riecht es nach dem nahen Eukalyptuswald, auf den Wegen liegen die purpurroten Knospen des Jakarandabusches. Im Kino wird erstmals „Born free“ gezeigt, in dem die Andersons eine wilde Löwin großziehen, aus dem Radio tönt Frank Sinatra. Nelson Mandela ist seit drei Jahren in Haft und das Ende der Apartheid noch weit entfernt.

Der sehr plastisch geschilderte, alle Sinne miteinbeziehende Schauplatz bildet die Hintergrundfolie dieser berührenden Familien- und Freundschaftsgeschichte. Emily, ein sensibles und vereinsamtes Kind, das sich schmerzhaft nach der Liebe ihrer oberflächlich-kalten Mutter sehnt, findet unversehens einen neuen Freund, als die Mallorys mit ihrem Wohnwagen im Garten von Emilys Familie landen. Von deren Sohn Streak fühlt sie sich erstmals so angenommen und geliebt, wie sie ist: „Sind die meisten Mädchen so wie du, Emily? fragt er.
„Nein.“ Ich muss lachen. „ Ich gehöre zu denen, die auf dem Kopf stehen.“
„Dann ist Auf-dem-Kopf-Stehen das Beste.“ sagt er.“
So sind es drei Bezugspersonen, die Emilys Leben erträglich machen: Buza, der alte Zulu-Nachtwächter, ihre Schwester Sarah und Streak. Alle drei werden am Ende des Buches nicht mehr da sein.

Cover
„Im Jahr des Honigkuckucks“ erzählt metaphernreich von einer zerrütteten Familie, von Geschwisterliebe und Freundschaft, von intensiven Gefühlen und lebensverändernden Ereignissen. Es erzählt von den Zulus, ihrer Geschichte und ihren Mythen und von der Unmenschlichkeit des Apartheidregimes.

Ausdrücke auf Afrikaans oder in Zulu, die im Glossar nachzulesen sind, werden so wie die historischen Informationen sehr dezent eingebunden, bilden einen integrativen Teil der Geschichte: Die Burenkriege oder Mandelas Biographie, die Buza Emily erzählt, als sie vor lauter Angst nicht mehr weiter weiß. Die Geschichte vom Jungen, „der den Ast des Baumes schüttelt“, wie sein Xhosa-Name übersetzt heißt, der keine Angst hat zu sagen oder zu tun, was er für das Richtige hält.

Linzi Glass macht kein Geheimnis daraus, wem ihre Sympathien gehören – und das sind sicher nicht die Engländer mit ihren geistlosen Partys und schon gar nicht die Afrikaander, die die Apartheid zum unumstößlichen Gesetz erheben. Was die Erwachsenen angeht, so zeigen in diesem Buch nur die Angehörigen der Xhosa menschliche Wärme und Mitgefühl. Dass Emily trotz allem nicht untergeht und ganz am Ende sogar zu neuer Lebensfreude findet, hat sie nur sich selbst und Buzas Geschichten zu verdanken, die ihr Mut und den Glauben an die eigene Kraft vermitteln.

Im alten Mythos sorgt der Honigkuckuck dafür, dass die Teile eines zerbrochenen Eis wieder ganz werden. In diesem Buch sind es Geschichten, die Zerbrochenes kitten. Traurig und schön und sehr lesenswert.

Karin Haller