Lilly Axster: Ich sage Hallo und dann NICHTS

„Ab heute bin ich nichts. Wenn schon ewiges Mittelfeld, weder Kopf noch Zahl, keine beste Freundin, keine größte Feindin, kein Teil vom „Pausenclub“, dann wirklich NICHTS."

Innsbruck-Wien: Tyrolia 2023. 200 S., € 14,99 ISBN 978-3-7022-4153-7

Identitätsfindung ist ein Prozess, der keinen Anfang und kein Ende hat. Man kann sich ihn als Wellenbewegung vorstellen, mit Phasen, in denen man besonders orientierungslos um seinen Platz in der Welt kämpft. An so einen Höhepunkt der Verunsicherung stellt Lilly Axster ihre vierzehnjährige Ich-Erzählerin Jecinta in ihrem neuen Jugendroman „Ich sage Hallo und dann NICHTS“.

Jecinta fühlt sich in allem wie ein „Dazwischen“: In der Familie zwischen der großen Schwester und dem kleinen Bruder, in der Schule, wo sie weder besonders gute noch schlechte Noten schreibt, wo sie keiner Clique zugehörig ist. Weder glücklich noch unglücklich ist. Als ihre Freundin Zineb einen Loyalitätsbeweis einfordert: „auf welcher Seite stehst du: Victoria oder ich“ und sich gleichzeitig mit Victoria zusammen tut, fasst Jecinta einen Entschluss. Sie wird sich vollständig und ausnahmslos verweigern:
„Ab heute bin ich nichts. Wenn schon ewiges Mittelfeld, weder Kopf noch Zahl, keine beste Freundin, keine größte Feindin, kein Teil vom „Pausenclub“, dann wirklich NICHTS. Ich will nirgends mehr dazugehören. Ich tu nichts mehr von dem, was alle tun: chatten, posten, liken, Fotos verschicken, sich für das eine oder das andere Geschlecht interessieren. (…) Ich brauche das alles nicht. Ich spiele nicht mehr mit.“

Aus „Jecinta“ wird „J“, die ihren gesamten Besitz entsorgt und stattdessen Teile aus dem Altkleidercontainer anzieht, weil „NICHTS zu sein auch bedeutet, nichts zu haben“, die keine Hausaufgaben mehr macht, weder in die Mädchen- noch in die Jungengruppe geht, weil „J“ sich weder noch zugehörig fühlt. „Jay ist mein Nein. Ich bin ein unbeschriebenes Blatt. Auf das ich alles draufschreiben kann. Aber meinen eigenen Text.“ Die Eltern sind zwar liebevoll, aber vor allem besorgt und überfordert. Und haben mit sich selbst genug zu tun – die zunächst uneingestandene Entfremdung mündet in Trennung und Wohnungswechsel. Das J-Sein halten sie da gar nicht aus.

Wer mit dem Nichts erstaunlich gut umgeht, ist Leonie. „Leo“, die Neue in der Klasse. Weil sie in ihrer eigenen Art von unberechenbarer Uneindeutigkeit das genaue Gegenteil von „Nichts“ ist: Sie ist viele. In dem Mädchen, das in einer sozialtherapeutisch betreuten WG lebt, alternieren mehrere verschiedene Identitäten. „Einige sind immer da, wenn ich da bin, aber sie zeigen sich nicht immer, sie tauchen auf, wann sie wollen.“
Mit Leo wird Jays NICHTS langsam zu ALLES, immer enger und vertrauter wird ihre Beziehung, die sie vor den anderen Freundinnen und Freunden geheim hält. Wie auch erzählen von etwas, das sie selbst nicht benennen kann…

 

axster ichsagehallo

Lilly Axster, die heuer mit dem renommierten Christine Nöstlinger-Preis ausgezeichnet wurde, widmet sich in „Ich sage Hallo und dann NICHTS“ erneut einer Hauptfigur, die sich die Frage nach ihrer eigenen Identität sehr rigoros stellt: Wer bin ich, wer will ich sein, wenn ich die Erwartungshaltungen anderer ganz und gar ignoriere? Wie ist das mit der Liebe? Mit Freundschaft, Geschwistern, Familie?

Eindeutige Antworten werden nicht geliefert, hier geht es darum, Fragen zu stellen. Das tut dem Text gut, der keine Überzeugungen verkaufen und nichts vorgeben will. Der so offen bleibt wie seine Figuren, die nicht ausanalysiert werden. Auch Leo nicht, sosehr sich das traumatisierte Mädchen dafür anbieten würde. Wie Jay darf Leo für sich selbst sprechen: In unterschiedlichen Handschriften auf jeweils einer eigenen Seite stehend, bekommen ihre multiplen Persönlichkeiten Platz in diesem Buch, fügen sich in kurzen Passagen zu einem fiktiven Heft, das sich auch an die Lesenden wendet: „Das sind einfach meine Gedanken zu heute. Nicht weitersagen. Ich verlasse mich auf euch. Danke.“

Nicht weitersagen: Leos Gewalterfahrungen werden nicht erzählt, so als wollte die Autorin ihre Figuren beschützen. Vielmehr nimmt Lilly Axster diese verständnisvoll und behutsam an der Hand, um sie in und durch Beziehungen zu begleiten, die Möglichkeit von Bindungen und Vertrauen zu eröffnen. Und zweifelsfrei deutlich zu machen: Du allein bestimmst, wie du leben möchtest. Schreib deinen eigenen Text.

Karin Haller