Sarah Michaela Orlovský: Ich

Eigentlich sollte man ja wissen, wer man ist. Welche Bedürfnisse man hat, welche Vorlieben, Abneigungen, Ziele.

#wasimmerdasauchheißenmag
Illustriert von Ulrike Möltgen
Innsbruck-Wien: Tyrolia 2017


Eigentlich sollte man ja wissen, wer man ist. Welche Bedürfnisse man hat, welche Vorlieben, Abneigungen, Ziele. Doch so einfach scheint es nicht zu sein. Einen klassischen Höhepunkt der Identitätssuche bildet die Pubertät, in der die oder der verwirrte Jugendliche noch nicht über viele hilfreiche Erfahrungswerte zur besseren Orientierung verfügt. „Wer werde ICH einmal? Wer WILL ich sein? Und: Wer oder was wird aus mir, wenn ich den richtigen Zeitpunkt für all diese wichtigen Entscheidungen übersehe?“
Die fünfzehnjährige Nono in Sarah Michaela Orlovskýs neuem Jugendroman „Ich#wasimmerdasauchheißenmag“ fühlt sich von der Vielfalt der Wahlmöglichkeiten überfordert: „So viele Möglichkeiten. So viele Versionen von mir selbst. Versinonen. Nonosionen.“

Nono ist ein Mädchen ohne nennenswerte Probleme. Keine Außenseiterin, sondern gut in der Klassengemeinschaft integriert, ihre beste Freundin Verli kennt sie seit der Volksschule, ihre Eltern sind weder gestorben noch haben sie sich getrennt, im Gegenteil, sie lieben sich immer noch. Woraus Nonos größte Herausforderung resultiert – sie bekommt ein Geschwisterchen. Wie wird sich dadurch das Familiengefüge verändern? Wo Mutter und Tochter sowieso schon dauernd um die Aufmerksamkeit des alle zwei Wochen abwesenden Piloten-Vaters buhlen. Mit ihm ist für das Mädchen alles einfach, mit der Mutter hakt es ein wenig mit der Kommunikation und dem gegenseitigen Verstehen.
Den Weg ihrer Selbstfindung dokumentiert ein Schreibheft, in dem Nono alles notiert, was sie niemandem sagt, weil es niemand verstehen würde. Und was sie niemandem erklären kann, weil sie es selbst nicht richtig versteht. Worüber sie schreibt auf diesen 200 Seiten? Über ihre Schulklasse, Begegnungen mit Jungs, mit ihrer besten Freundin Verli, das Zusammensein mit ihrem Vater, der Mutter, über Szenen zu dritt, die sich immer wieder auch wunderbar nach Familie anfühlen können, und natürlich schreibt sie bei alledem über sich selbst. Nono geht ihre Identitätssuche planvoll an, so probiert sie sich etwa in verschiedenen Kleidungsstilen aus, um die Reaktionen der Umwelt auf die jeweilige Version ihrer selbst zu beobachten.
„Wenn ich weiß, zu welcher Gruppe ich gehöre, weiß ich, welchen Stil ich habe. Wenn ich weiß, welchen Stil ich habe, weiß ich, wie und was und wer ich bin. Wenn ich weiß, wer ich bin, weiß ich, wer zu mir passt.“ Denn nicht einmal das weiß Nono mit Sicherheit: in welchen der vier jungen Männer, die ihren Weg kreuzen, sie verliebt ist. Ob sie überhaupt verliebt ist. Unsicherheit und Zweifel sind ihre ständigen Begleiter, was ihr durchaus bewusst ist. Auch, wie es theoretisch anders gehen würde: So notiert sie:
„Wie wir unser Leben meistern: Jarik: Humor+Sarkasmus+Intelligenz+Scheißdraufmentalität.
Verli: Kunst+Rehaugen+Riesenlächeln+Yeswecanmentalität.
Nono: Selbstzweifel+Weltzweifel+Orientierungslosigkeit+Weißnichtgenaumentalität.“


Cover
Sarah Orlovský verleiht ihrer Ich-Erzählerin eine hohe verbale Ausdrucksfähigkeit und ein Reflexionsvermögen, das gleichmäßig zwischen ironisch-analytischer Weite und scheuklappenartiger Eingeschränktheit des Blickfeldes pendelt. Und das alles ist glaubwürdig und berührend, so wie auch die Sprache dieses fiktiven Notizheftes mit einer Leichtigkeit daherkommt, in der sich unaufgesetzt Sprachmuster von Jugendlichen, englische Ausdrücke, auch gerne mal bewusst unkorrekt, und episch anmutende Passagen zu einem harmonischen Ganzen fügen. Vor allem besticht das Buch durch seinen Witz: Der basiert einerseits auf einer treffsicheren Wahl der Sprachbilder. Beispielhaft eine der vielen herrlichen Klassenszenen: „Bitteschön, sagt er und platziert einen Gegenstand vor Jariks Nase. Die versammelte Mannschaft geht auf die Zehenspitzen wie eine Horde Vorschulballerinas beim Aufwärmen. Wir recken die Hälse, komplett schwanenseemäßig.“
Andererseits resultiert der Humor des Textes aus bewusster Reduktion, wenn etwa Nono vor einem der „ich bin möglicherweise in sie verliebt-Jungs“, einem Verkäufer, nicht gerade logisch reagiert: „Wunderbar“, lacht er. „Dann setzt du dich jetzt mal hierhin und der gute alte Sven zeigt dir was Ordentliches für deine Füße. 38?“ Ich nicke, obwohl ich 39 habe.“

Das ist Orlovskýs Können: Mit wenigen Worten viel zu sagen, nicht alles auszuerzählen, und die Dinge, auf die es besonders ankommt, dann aber auch ganz deutlich zu benennen. So die Erkenntnis, die Nono im Verlauf des Heftes gewinnt: „Das ist das perfekte Ich-Gefühl. So möchte ich sein, so möchte ich mich immer fühlen. Nur dass es gar kein Ich-Gefühl ist. Es ist ein Wir-Gefühl.“

Das eigene Ich steht nicht als singuläre Entität allein in Zeit und Raum, sondern ist Teil einer Gemeinschaft, eines Freundeskreises, einer Schulklasse, einer Familie. Nonos letzter Eintrag lautet: „Ich weiß jetzt, wer ich BIN, kleine Schwester. Ich bin die, die dich mehr liebt als alles andere auf der Welt. (…) Und wenn das alles ist? Dann reicht es.“ Vorher gibt sie ihr aber auch noch eine andere wichtige Erkenntnis mit auf den Weg: „Kein Stil ist auch ein Stil.“

Wie gesagt: Sarah Orlovský bringt die Dinge auf den Punkt.

Karin Haller