Anna Woltz: Hundert Stunden Nacht

Emilia läuft weg. Emilia läuft weg, weil ihr Vater – ausgerechnet auch noch Direktor ihrer Schule – sich in eine Schülerin verliebt hat und nach dem Auffliegen seiner 67 peinlichen sms ein digitaler shitstorm über die Familie hereinbricht.

Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Hamburg: Carlsen 2017


Emilia läuft weg. Emilia läuft weg, weil ihr Vater – ausgerechnet auch noch Direktor ihrer Schule – sich in eine Schülerin verliebt hat und nach dem Auffliegen seiner 67 peinlichen sms ein digitaler shitstorm über die Familie hereinbricht. Obwohl es erst vierzehn ist, plant das Mädchen seine Flucht von Amsterdam nach New York bis ins Detail, den mittels väterlicher Kreditkarte gebuchten Flug, das im Voraus bezahlte Apartment. Emilia schafft es tatsächlich, einzureisen – glücklicherweise ist sie nicht nur außergewöhnlich gut vorbereitet, sondern auch zweisprachig aufgewachsen. Doch dann läuft es überhaupt nicht mehr nach Plan. Denn das reservierte Zimmer in Soho stellt sich als Fake heraus, als von einem Internetbetrüger willkürlich ausgewählte Adresse, an der sie auf Seth und seine kleine Schwester Abby trifft. Und weil Emilia nirgends sonst hin kann, wird sie dort aufgenommen – schließlich steht Orkan Sandy unmittelbar bevor. Komplettiert wird die Notgemeinschaft durch den verletzten Jim, ein Junge, der aussieht wie ein Filmstar und am liebsten kapitalismuskritische Reden schwingt – nicht gerade zu Seths Begeisterung.

In ihrem unfreiwilligen Orkanasyl trotzen sie dem Sturm, allein, ohne Erwachsene, die aufgrund des Flugverbots nicht nach New York können. Seths und Abbys Mutter nicht, Emilias Eltern nicht, die ihre Tochter mittlerweile aufgespürt haben. Als Sandy über die Stadt hinwegfegt, fällt der Strom aus, öffentlicher Verkehr, Wasserversorgung und elektronische Kommunikation brechen zusammen. Dunkel ist es und kalt, und so rücken Emilia, Seth, Abby und Jim näher zusammen, buchstäblich und im übertragenen Sinne.

„Hundert Stunden Nacht“ der niederländischen Autorin Anna Woltz erzählt davon, Grenzen zu überwinden, Nähe zuzulassen. Die Bakterienphobie der Ich-Erzählerin mit den kaputt gewaschenen Fingern steht auch für Emilias Angst, von anderen berührt zu werden. Ihr Vater darf sie schon seit Jahren nicht mehr anfassen, „und meine Mutter hat Haut an Haut nie gemocht“. Dieses Zulassen von Nähe setzt voraus, sich seinen Ängsten zu stellen. Alle vier jungen Menschen haben nicht nur mit dem Orkan, sondern auch mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen, Seth und Abby mit dem Tod ihres Vaters, der möglicherweise Selbstmord begangen hat, der 17jährige Jim mit der Perspektivlosigkeit nach dem Schulabbruch. Am Ende, als New York nach Tagen im Ausnahmezustand langsam zur Normalität zurückkehrt, haben sie alle in der wachsenden Geborgenheit und Vertrautheit ihrer Gemeinschaft ihre Ängste ein Stück weit überwunden.
Den Schlüssel dafür stellt offene Kommunikation dar – etwas, was die Hauptfiguren bisher nicht kennen gelernt haben: So diagnostiziert Emilia vor dem Treffen mit ihren Eltern: „Aber jetzt, durch meine Flucht, wird es ein Gespräch geben. Und das ist eine echte Katastrophe, denn wir haben nie Gespräche. Das kommt bei uns nicht vor.“ Es ist ein Schweigen, unter dem die jungen Menschen leiden – Abby wünscht sich etwa nichts sehnlicher, als über den Tod ihres Vaters reden zu können, und als Emilia endlich wegen der Dummheit des Vaters explodiert, stellt sie erstaunt fest: „Du hast keine Ahnung, wie toll es ist, einmal nicht den Mund zu halten.“

Cover
Es sind die Kinder und Jugendlichen, die ihre Entwicklung gemeinsam durchlaufen müssen, Erwachsene sind in dieser Coming-of-Age Geschichte nicht hilfreich, sondern vielmehr Auslöser vieler Probleme. Doch selbst wenn sie, wie Emilias Eltern, irgendwo zwischen Egozentrik, Überforderung und Orientierungslosigkeit pendeln, werden sie nicht als negative Charaktere gebrandmarkt. Der Text bemüht sich gerade auch in seiner Figurenzeichnung um Differenziertheit. Weil, wie Seth feststellt, die analoge Welt im Unterschied zur digitalen nicht nur eine Null und eine Eins kennt, sondern auch etwas dazwischen. In mancher Hinsicht lässt sich „Hundert Stunden Nacht“ dahin gehend lesen, wie wichtig und wertvoll die persönliche, die nicht-digitale Kommunikation ist, wie problematisch die sozialen Medien mit ihren ungefilterten Meinungsäußerungen sein können, wie angreifbar die Abhängigkeit von den digitalen Kommunikationsmitteln ist.

Es braucht nur einmal der Strom auszufallen, und schon versinkt eine ganze Stadt im Chaos. Doch am Ende dieser „Hundert Stunden Nacht“ wartet ein ziemlich heller Morgen. Auf Emilia und ihre Eltern, für die ein Neubeginn in New York denkbar ist, für Seth und Abby, die den Tod des Vaters besser bewältigen werden, für Jim, der nach Detroit zurückkehren und wieder in die Schule gehen wird. Und wenn man, wie am Ende Emilia und Seth, ein klein wenig Hilfe dabei braucht, über seinen Schatten zu springen, dann ist das auch okay: „Ich weiß schon, warum es so komisch ist“, sage ich. „Das Licht muss aus.“ Er nickt. „Das dachte ich auch gerade.“

Karin Haller