Brian Selznick: Die Entdeckung des Hugo Cabret

„Ehe ihr die Seite umschlagt, möchte ich, dass ihr euch vorstellt, im Dunkeln zu sitzen wie zu Beginn eines Kinofilms“.

Illustriert vom Autor. Übersetzt von Uwe Michael Gutzschhahn
München: cbj 2008


„Ehe ihr die Seite umschlagt, möchte ich, dass ihr euch vorstellt, im Dunkeln zu sitzen wie zu Beginn eines Kinofilms“. So fordert uns Brian Selznick zu Beginn seines neuen Romans „Die Entdeckung des Hugo Cabret“ auf. Und was folgt, ist tatsächlich Kino. Ein Film zwischen Buchdeckeln. Selznick erzählt nicht nur in Worten, sondern wechselweise in langen Illustrationssequenzen, die anstelle des Textes die Geschichte vorantreiben.

Bevor ein Wort fällt, hat die Filmkamera uns schon durch 21 beeindruckende Doppelseiten schwarz-weißer Bleistiftzeichnungen geführt, die sich von der aufgehenden Sonne über dem Paris des Jahres 1931 auf den Bahnhof zoomen, einem Jungen durch die große Halle und durch verschlungene Gänge bis zu seinem Versteck folgen. Zwischen den Mauern, für andere unsichtbar, lebt der Waisenjunge Hugo Cabret, hütet und wartet anstelle seines verschwundenen Onkels die Uhren. Von seinem Versteck aus kann er alles beobachten, ohne selbst gesehen zu werden; dort versucht er, dem Geheimnis des mechanischen Mannes auf die Spur zu kommen, den ihm sein Vater zusammen mit einem Notizbuch hinterlassen hat. Ein Automat, der etwas schreiben wird, sobald es Hugo nur gelungen ist, ihn zu reparieren.

Deshalb stiehlt er in einem Spielzeugladen immer wieder verschiedene kleine Teile, die erstaunlicherweise alle passen. Doch als er dabei erwischt wird, setzt sich eine Kette von Ereignissen und neuen Rätseln in Gang. Warum nimmt der verschlossene alte Besitzer des Ladens, Papa Georges, völlig verstört Hugos Notizbuch an sich? Warum trägt Isabelle, Papa Georges Patentochter, einen Schlüssel um den Hals, der genau zu Hugos Automaten passt? Warum zeichnet dieser ein Bild aus einem Film?

Nach und nach lösen sich die Geheimnisse: Der alte Spielzeugladenbesitzer ist Georges Méliès, Zauberkünstler und Kinopionier, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl aufsehenerregender Filme geschaffen hat. Der mechanische Mann ist seine Schöpfung, die er so wie seine ganze Vergangenheit verbittert hinter sich gelassen hat. Doch am Ende hat nicht nur Hugo eine Freundin und eine neue Familie gefunden, sondern auch Georges Méliès seine späte verdiente Würdigung erfahren und mit der Vergangenheit seinen Frieden geschlossen.

Cover
Brian Selznick bezeichnet sein Werk selbst als „Roman in Worten und Bildern“ – und überschreitet durch die erzählerische Gleichwertigkeit von Wort und Bild die üblichen Seh- und Lesegewohnheiten.

Ganz einfach wird dieses Überschreiten durch den hohen Spannungsgehalt der Geschichte, die fesselt und berührt. Er erzählt von Geheimnissen und Rätseln, von Träumen und Visionen. Von Verlust, Trauer und Einsamkeit, aber auch von Freundschaft, Liebe und Fürsorge.

Leicht macht es uns Selznick aber vor allem durch die enorme Faszination der Illustrationen, die sich an den Schwenks und Fahrten einer Kamera orientieren, sich heran- und wieder wegzoomen, Detailaufnahmen zeigen oder die Totale, Bewegung und Stillstand vermitteln. Besondere Gusto-Stückerl im zweiten Teil sind Zeichnungen und Standbilder aus den alten Filmen. „Die Reise zum Mond“, „Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer“, „Das Verschwinden einer Dame.“ Hugo und Isabelle sind frei erfunden, Georges Méliès gab es wirklich. Ein Zauberkünstler, der sich als einer der ersten dem Medium Film zuwandte.

„Die Entdeckung des Hugo Cabret“ ist eine Hommage an diese Menschen, diese Kunstform, diese Zeit. Eine Liebeserklärung an das Kino, wie es ursprünglich war. Brian Selznick ist es gelungen, genau so einen Roman zu schreiben, zu zeichnen: ein Buch voller Magie und Phantasie.

Karin Haller