Melissa Albert: Hazel Wood

Hinter den Türen von Kleiderschränken, in den Tiefen eines Kaninchenbaus und vor allem im Inneren von Büchern warten sie, die geheimnisvollen Welten hinter den Spiegeln.

Wo alles beginnt
Aus dem Amerikanischen von Fabienne Pfeiffer
Hamburg: Dressler 2018
352 S. | € 19,00


Hinter den Türen von Kleiderschränken, in den Tiefen eines Kaninchenbaus und vor allem im Inneren von Büchern warten sie, die geheimnisvollen Welten hinter den Spiegeln. Ob das Puppenreich in E.T.A. Hoffmanns „Nussknacker und Mausekönig“, die magische Harry Potter-Welt J.K. Rowlings oder Michael Endes „Phantasien“ in seiner „Unendlichen Geschichte“, die Literatur ist voll von Parallelwelten. Unbemerkt und unerkannt sind sie da, erschließen sich nur jenen Protagonisten, die den Übergang finden oder unabsichtlich hineinstolpern. Manchmal kommen die Bewohner der Anderswelt auch zu uns, werden in unsere Wirklichkeit hereingelesen wie in Cornelia Funkes “Tintenherz“ oder statten uns einen Besuch aus der Hölle ab wie der Teufel in Bulgakows „Der Meister und Margarita“.

Dass sie es auch mit so einer phantastischen Welt zu tun hat, weiß die 17jährige Alice in Melissa Alberts „Hazel Wood“ zunächst nicht. Sie weiß nur, dass sie vom Unheil verfolgt wird – ihr ganzes Leben hat sie damit verbracht, mit ihrer Mutter vor unerklärlichen, bedrohlichen Ereignissen wegzulaufen. „Meine Mutter ist mit Märchen großgezogen worden, aber ich bin auf Highways aufgewachsen.“ Nie blieben sie lange an einem Ort, und nie waren sie in Hazel Wood, dem Haus ihrer Großmutter Althea Proserpine. Fast nichts weiß Alice von ihr, der mysteriösen Künstlerin, die die „Märchen aus dem Hinterland“ geschrieben hat, ein kultisch verehrtes Buch, das nahezu unauffindbar geworden ist. Alice selbst hat es nie gelesen. Doch als ihre Mutter Ella entführt wird, ist Alice klar, dass sie deren Warnung „Halt dich fern von Hazel Wood“, nicht befolgen kann. Und so nähert sie sich zur Rettung Ellas Schritt für Schritt dem „Hinterland“ aus den Märchen ihrer Großmutter und damit ihrer eigenen Geschichte …

In ihrem international hochgelobten Debut hat die junge amerikanische Autorin einen All Age-Roman geschaffen, der brillant mit Motiven aus der phantastischen Literatur und dem Märchen, aber auch aus dem Horror- und Thrillergenre spielt. Der große spannungs-erzeugende Kniff dabei ist, dass man als Lesender lange nicht einmal ahnt, wie sehr sich der erzählerische Kosmos über die uns bekannte Realität hinaus ausdehnt. Man begleitet Alice und ihren Freund Finch durch das urbane Setting New Yorks, ohne die düsteren Elemente, die mehr und mehr Raum gewinnen, von Anfang an einer phantastischen Welt zuzuordnen. Bis das „Hinterland“ immer markanter und dominanter und schließlich zum Schauplatz des Geschehens wird. Und das ist kein verzaubertes Märchenland, sondern eine alptraumhafte Welt, in der grausame Dinge geschehen. Wenn Finch Alice aus dem Gedächtnis Märchen daraus erzählt, sind die Türen, die keine sind, mit Blut gezeichnet. Der Glitzereffekt, mit dem das Cover der deutschsprachigen Ausgabe von „Hazel Wood“ versehen ist, könnte irreführender nicht sein.

Cover
„Hazel Wood“ ist soghaft spannend. Melissa Albert versteht es, geheimnisvolle Figuren auftreten zu lassen, Bedrohungen anzudeuten, Gefahren zu steigern. Und obwohl der Großteil ihrer Motive auch aus anderen Büchern bekannt ist – „The Other Alice“ ihrer britischen Kollegin Michelle Harrison scheint sie genauso gelesen zu haben wie sämtliche Klassiker der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur, Grimms Märchen sowieso – ist diese Geschichte ungewöhnlich und frisch. Vor allem die einsame Ich-Erzählerin fasziniert in ihrer Mischung aus widersprüchlichen Eigenschaften, sie ist eine wie mit Dornen bewehrte Figur, die gleichermaßen Angst macht, wie sie anziehend wird. Alice´s herausragendste Eigenschaft ist ihre unkontrollierbare heiß-kalte Wut, die weit über den Jähzorn durchschnittlicher Teenager hinausgeht. Alles an ihr ist anders, größer, bedingungsloser. Ihr Zorn, ihre Entschlossenheit, ihre Angst. Und die Liebe zu ihrer Mutter Ella, die über allem anderen steht.
„Ich würde ihr in die Hölle folgen“. Als sie das sagt, weiß sie noch nicht, dass sie genau das tun wird. Und wir Leserinnen und Leser begleiten sie dabei, ohne das Buch weglegen zu können.

Karin Haller