Cornelia Travnicek: Harte Schale, Weichtierkern

Kein Buch über Autismus, und doch erfährt man viel darüber. So wie übrigens auch über Oktopusse.

Illustriert von Michael Szyszka. Weinheim: Beltz & Gelberg 2022. 126 S., € 15,50. ISBN 13 978-3-407-75645-9


Bärenhöhlen, Biberburgen, Fuchsbauten – die Natur ist in der Entwicklung von Schutzräumen sehr einfallsreich. Ein Oktopus versteckt sich sogar in einer leeren Kokosnussschale. Diesem Tier fühlt sich die 16-jährige Fabienne in Cornelia Travniceks neuem Jugendroman „Harte Schale, Weichtierkern“ besonders verbunden. Sie ist Lady Kalmar, die gegen den Strom schwimmt.

Leicht zugänglich ist Fabis Innenleben nun wirklich nicht. Andere halten sie für unhöflich, eingebildet, überängstlich, schlecht gelaunt. In Wahrheit verbirgt sich hinter der verschlossenen Fassade eine junge Frau mit Asperger-Syndrom, so die Diagnose des Psychologen, den Fabi eigeninitiativ aufsucht – sie will wissen, was mit ihr los ist. Warum sie anders ist. „Ich bin oft grundlos leicht traurig, mache mir ständig Sorgen, weiß nicht, wie man eine beste Freundin findet, und nachts frisst mich die Zeit langsam auf.“ Die Erkenntnis, sich innerhalb des Autismus-Spektrums zu befinden, kann sie mit niemandem teilen – die Eltern würden weiterhin meinen, sie soll sich nicht so anstellen. Lautet doch das Urteil ihrer Mutter: „Du bist unglaublich gescheit, aber zum Leben zu dumm.“ Und Marco, der Junge, mit dem sie über alles reden konnte, hat sich vor kurzem von ihr getrennt. Nun aber weiß sie von ihrer Neuroatypie, trifft Menschen, denen es ähnlich geht wie ihr, und findet zu neuen Freundschaften. 

Auf knappen 130 Seiten lesen wir Fabiennes Tagebuch, in dem sie alles umsetzt, was ihr an therapeutischen Methoden nahegelegt wird: Sie notiert Gedanken, auf weißem Hintergrund oder auf punktierten, linierten, karierten Seiten, führt Listen, erstellt Mindmaps und Fragebögen, schreibt, ohne den Stift abzusetzen, zeichnet. So entsteht im vielgestaltigen Zusammenspiel von Text und Bild bzw. Grafik ein Hybridroman, der der Inhomogenität der Ich-Erzählerin perfekt entspricht. Fühlt sie sich doch die ganze Zeit über, als würde sie auseinanderfallen. Und findet in diesem Tagebuch einen Rahmen.

 

travnicek weichtierkern

Die Illustrationen wie der Satz und das Lettering – da kann ein einzelnes handschriftliches Wort in Versalien schon mal eine ganze Textseite beanspruchen – stammen von Michael Szyszka. Ganzseitig oder kleinteilig collagiert, in rot-blau-gelb gehalten oder in schwarz-weiß, entfaltet diese Bildebene eine große Kraft. Cornelia Travnicks Sprache steht dieser Expressivität und reduzierten Genauigkeit in nichts nach. 

Das erzählerische Mittel, Fabiennes Stimme in Form eines Tagebuchs festzuhalten, macht natürlich Sinn –  hier kann sie ihre hochentwickelte Sprachbegabung ausleben. In der Gegenwart anderer Menschen ist sie „Kopf ohne Nase, Mund. Zwei große Augen, in die zu viel Licht fällt. Die Seehexe hat meine Stimme genommen.“ Viel zu sehr ist sie unter Menschen damit beschäftigt, sich um Anpassung zu bemühen. Sich zu fragen, ob sie ihrem Gegenüber richtig in die Augen sieht, „direkt genug, lange genug, unauffällig genug, natürlich genug.“ 

Das Hinterfragen der eigenen Wirkung auf andere, die Listenverliebtheit, die Lärmempfindlichkeit, die Fixierung auf Rituale und Gewohnheiten – man hat beim Lesen immer wieder das Gefühl, dass einzelne Facetten Fabiennes sich nicht nur in ihrem besonderen Psychogramm finden können, sondern auch in einem neurotypischen Charakter. Es ist das stilistische Verdienst Travniceks, diese Ich-Erzählerin mit Humor und Selbstironie mit ihren Stärken und Schwächen glaubhaft zu machen. Sie nicht als bemitleidenswert oder gar krank zu charakterisieren, das Asperger-Syndrom aber auch nicht zu verharmlosen oder zur besonderen Begabung hochzustilisieren. „Harte Schale, Weichtierkern“ ist kein Buch über Autismus, und doch erfährt man viel darüber. So wie übrigens auch über Oktopusse. 

Sich selbst mit all seinen Besonderheiten so anzunehmen, wie man nun eben ist,  das ist für alle – neurotypisch oder -atypisch – lebenslange Herausforderung. Am Ende notiert Fabienne: „Früher hätte ich gedacht, ich zu sein, das hätte so seine Nachteile. Mittlerweile kann ich sehen: Es hat auch seine Vorteile. Andere Leute verbringen ihr Leben damit, aus sich rauszugehen, weil sie es in sich selbst nicht aushalten. Ich komme ganz ausgezeichnet mit mir aus.“

Sich zeitweise in eine Kokosnuss zurückzuziehen, wo man ganz und gar man selbst ist, ohne das Bemühen, anderen zu entsprechen, zu gefallen, ohne das Spiel, das wir laut Schnitzler alle spielen – das kann sich ziemlich gut anfühlen. Und nicht nur dann, wenn man gegen den Strom schwimmt.

Karin Haller