
Johannes Herwig: Halber Löwe
Keiner legt sich mit ihnen an. Oder zumindest nur einmal. Wenn Sascha von älteren Schülern blöd angemacht wird, kommen am nächsten Tag Jarno und Engel in die Hofpause und „legen die gesamte Truppe vor versammelter Mannschaft zusammen. Ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen.“ Die vier Freunde in Johannes Herwigs neuem Jugendroman „Halber Löwe“ definieren ihre eigenen Regeln. Abends treffen sie sich in einem Abbruchhaus, trinken Bier, kiffen, überlegen die kommenden Aktionen. Seit Jahren absolvieren sie Mutproben, immer nacheinander, Timo, Jarno, Engel und Sascha, der Ich-Erzähler. „Jeder von uns (…) muss sich einmal im Monat beweisen. Eine Art Prüfung. Ob man würdig ist, sozusagen.“ Und das sind keine kleinen Dumme-Jungs-Streiche, sondern ausgewachsene Straftaten, Einbrüche, Diebstähle, Vandalismus. Da kann es schon mal passieren, dass „Engel, unser Senior“ – einem Wachmann seine Knarre an den Kopf hält. „Zur Klärung der Situation.“ Es sind Rituale der Zusammengehörigkeit, mit denen sie immer wieder unter Beweis stellen, dass sie füreinander einstehen. Weil sie sonst niemanden haben, auf den sie sich verlassen können.
Als ein Neuer in die Klasse kommt, dessen Sachen noch abgeranzter aussehen als seine eigenen, nimmt Sascha ihn mit zu den Kumpels. Als er merkt, dass der ruhige, fast naive Junge eigentlich nicht zu ihnen passt, ist es schon zu spät, Marcel hat sich zu einer Mutprobe verpflichtet und alles nimmt seinen Lauf. Sie werden nur eine einzige Nacht zu fünft haben, Marcel stirbt. Ein Unfall, oder gar Selbstmord? Die Frage, ob sie dafür verantwortlich sind, bleibt unabhängig davon bestehen. Sie wird die Gemeinschaft für immer auseinanderreißen.

Wir befinden uns in Leipzig kurz nach der Wende, doch nicht Neuanfang oder Aufbruchsstimmung liegen in der Luft, sondern finanzielle Not, Orientierungslosigkeit und Unvollständigkeit. Nicht umsonst ist die Stuckarbeit oben auf dem Abbruchhaus titelgebend: ein Löwe, der nur noch halb ist, früher einmal prächtig, nun abgebröckelt. Timos Vater, der seinen Sohn gewohnheitsmäßig verprügelt, hat seine Arbeit verloren, die Eltern von Jarno hanteln sich von Job zu Job, Saschas tapfere Mutter kämpft sich als Krankenschwester durch, so gut sie kann, um für ihren Sohn und seine kleine Halbschwester Jacky zu sorgen. Halt oder Sicherheit kann sie ihm aber auch nicht vermitteln. Seit der Grundschule fühlt sich Sascha irgendwie fehl am Platz. So, als wäre er „falsch abgebogen. Gestrandet auf dem Nebengleis.“ Jetzt, im letzten Schuljahr vor Abschluss der Mittelschule, hat er keine Ahnung, was er mit seinem Leben anfangen soll. „Jeder Versuch, darüber nachzudenken, endete in einem großen Fragezeichen.“ Der verstorbene Vater fehlt schmerzlich, obwohl der Junge kaum Erinnerungen an ihn hat.
Johannes Herwig schafft es, seinen Ich-Erzähler facettenreich zu komponieren, Saschas Härte in der Gruppe korrespondiert mit der liebevollen Zärtlichkeit, mit der er sich um seine kleine Schwester kümmert, für sie kocht, sie zu Bett bringt, ihr vorliest. Unter dem halben Löwen sieht es anders aus. Wenn Timo von zu Hause mit einer frischen Schwellung an der Wange in die Bude kommt, zieht Sascha nur die Augenbrauen hoch: „Wieder Streicheleinheiten bekommen?“
Man hat den Eindruck, der in Leipzig geborene und aufgewachsene Autor weiß gut, wovon er schreibt, kennt den „Zorn auf die Welt, weil ihr alles egal ist“. Laut Verlagsinformation erlebte er die Nachwendezeit als Punk, was man nicht wissen müsste, um zu spüren, wie authentisch und glaubwürdig seine Geschichte ist, mit einer Vielzahl an Details und Bildern, die den Leser/die Leserin in die staubig-verfallene Szenerie mitten hinein in Zigaretten-Nebelschwaden und Bierdunst versetzen. Der erzählerische Tonfall ist rau, aber auch stellenweise witzig und sehr emotional – der Autor bringt seinen Figuren viel Verständnis und Empathie entgegen. So passiert es, dass man diese Jungs mag, obwohl sie gewalttätig und destruktiv sind. Aber eben bei weitem nicht nur.
Herwigs literarischer Blick ist auf ein jugendliches Leben vor mehr als dreißig Jahren gerichtet, das in dieser Form schon fast historisch koloriert wirkt – die Fragen um Freundschaft, Familie, Verlust und Schuld sind zeitlos. Und sehr lesenswert.