Martina Wildner: Grenzland

Sie fallen nicht auf, die Jugendlichen, die mit langärmligen T-Shirts die Schnitte auf ihren Unterarmen verbergen. So wie die fünfzehnjährige Agnes in Martina Wildners „Grenzland“ kein Problemkind ist, keine Schwierigkeiten hat und macht, in einer liebevollen Familie aufwächst.

Illustriert von der Autorin
Frankfurt/M.: Fischer 2009


Sie fallen nicht auf, die Jugendlichen, die mit langärmligen T-Shirts die Schnitte auf ihren Unterarmen verbergen. So wie die fünfzehnjährige Agnes in Martina Wildners „Grenzland“ kein Problemkind ist, keine Schwierigkeiten hat und macht, in einer liebevollen Familie aufwächst. Und doch fehlt ihr etwas. Die Zeit ist zu einer „Art Brei“ geworden, fließt zäh in bekannter Durchschnittlichkeit ohne Höhepunkte dahin. Agnes ist gelangweilt und allein, Jana, ihre Freundin aus Kindertagen, hat sich in eine fremde Welt der Verweigerung und gepiercten Rebellion verabschiedet. Durch Zufall entdeckt Agnes, dass sie der Bedeutungslosigkeit entkommt, wenn sie sich ritzt. Die verbotene Welt hinter dieser Grenze gibt ihr das, wonach sie sich sehnt: Gefühlsintensität, Abenteuer und Gefahr: „War hier im Spiel nicht alles viel besser? Spannender? Bunter? Aufregender? Und irgendwie bedeutsamer?“ (S.300)

Das Grundthema „Selbstverletzung“ ließe es zwar vermuten, aber „Grenzland“ ist keine problemorientierte Erzählung, sondern eine spannende, temporeiche Geschichte ohne dominanten pädagogischen Impetus. Denn Wildner hebt den Plot auf eine phantastische Ebene, ihr Hang zu erzählerischen Verwirrspielen, den sie schon in ihren Romanen „Six“ oder „Murus“ literarisch umsetzte, zeigt sich auch hier.

Wenn Agnes sich schneidet, betritt sie ein Paralleluniversum mit eigenen, nicht nachvollziehbaren Gesetzen, ein virtuelles Spiel, in dem Aufgaben zu absolvieren sind. In einer Bowlinghalle muss sie, ohne zu trinken, in unerträglicher Hitze bis zur Erschöpfung spielen, in einem Schwimmbad um die Wette tauchen, eine verfremdete Version von „Stadt-Land-Fluss“ bewältigen.

Daneben geht ihr reales Leben weiter, sie verliebt sich in Matti, einen älteren Schulkollegen, fängt an zu rauchen, reißt in der Nacht aus. Beide Ebenen sind miteinander vernetzt, die Übergänge zwischen Realität und Anderswelt sind durchlässig und verschwommen. Im „Grenzland“ sind keine Phantasiefiguren unterwegs, sondern reale Menschen, die wie Agnes versuchen, ans Ziel des Spiels zu kommen: Matti ebenso wie ihre Freundin Jana, alle, die sich willkürlich selbst in Gefahr bringen, haben Zutritt, erwachsene Extremsportler ebenso wie jugendliche Magersüchtige.

Cover
Dinge, die in der Welt des Spiels geschehen, haben ihre Konsequenzen in der Realität, Erlebnisse aus der Wirklichkeit werden zu Komponenten des Spiels. Das ist zwar weder schön noch glückbringend, übt aber dennoch eine immer größere Faszination aus.

Tiefer und länger werden die Schnitte, immer abstruser die Spielsituationen, immer stärker wird der Sog, das Grenzland zu betreten. Anfangs ritzt sich Agnes nur aus Langeweile, keine traumatisierenden Erlebnisse oder eine desolate soziale Situation werden zum Auslöser der Grenzüberschreitung, sondern emotionale Leere und Orientierungslosigkeit. Doch bald gerät das Spiel außer Kontrolle, entwickelt sich zur Sucht.

Entscheidender Motor dabei ist Matti, der in der Geschichte die Rolle des dämonischen Verführers übernimmt. Ihn will das Mädchen im Spiel wie in der Realität für sich gewinnen.

Es gelingt Wildner gut, die Eigendynamik zu veranschaulichen, die Agnes wider besseres Wissen und entgegen aller Vorsätze immer wieder zum Messer greifen lässt. Dass sie am Ende doch herausfindet, hat sie mehreren Faktoren zu verdanken: ihrem verständnisvollen familären Umfeld, der Hilfe eines anderen Mitschülers, der das Spiel schon hinter sich hat, und ihrer eigenen Stärke. So gelingt es ihr, nicht nur sich selbst aus dem Kreislauf zu befreien, sondern auch ihre Freundin Jana. Bis es aber soweit ist, folgt man dem Mädchen mit großem Interesse durch ihr Leben und die chaotischen Räume und Aufgaben des Spiels, neugierig auf den Ausgang. Wer das Buch psychologisch interpretieren will, findet genügend Stoff, wer einfach nur eine spannende Geschichte lesen will, auch.

Karin Haller