Katie Henry: Gideon Green. Das Leben ist nicht schwarz-weiß

Wie Glücklichsein von außen aussieht.

Aus dem Englischen von Anne Emmert. Bamberg: Magellan 2023. 384 S., € 19,60. ISBN-13 978-3-7348-5081-3

Gideon Green ist anders – und er will es auch sein. Er hat seinen eigenen Blick auf die Welt, löst mit Akribie und Geschick Rätsel, verfolgt mit verbissener Konsequenz, was ihm wichtig erscheint. Vorsicht ist ihm ebenso fremd wie Rücksichtnahme. Lustvoll zelebriert der sechzehnjährige Ich-Erzähler in Katie Henrys neuem Jugendroman seine Außenseiterposition mit Trenchcoat und Fedora Hut – Referenzen an seine ehemalige Karriere als Detektiv, die er mit zwölf an den Nagel gehängt hat. Seine Leidenschaft gehört dem Film noir, der allerdings von seinem eigenen Leben denkbar weit entfernt ist, und das nicht nur, weil er in Kalifornien lebt. „Der ständige Sonnenschein verhunzt echt die Ästhetik.“

Jeden Tag nach der Schule sitzt er in seinem verdunkelten Zimmer und sieht sich dieselben Filme an. „Der dritte Mann“, „Goldenes Gift“, „Die Spur des Falken.“ Da steht plötzlich seine ehemals beste Freundin Lily vor der Tür und bittet ihn um Hilfe – Gideon soll sie bei den Recherchen für einen Artikel in der Schülerzeitung unterstützen. In der Folge stolpern die beiden über eine Leiche und einen handfesten Korruptionsskandal, Gideon findet als Mitglied der Redaktion erstmals eine Gemeinschaft und in der Chefredakteurin Tess seine erste große Liebe.

Es passiert also allerhand im Außen und noch mehr im Inneren des Helden, „Gideon Green. Das Leben ist nicht schwarz-weiß“ ist eine klassische Coming-of-Age Story: Zu Beginn gefällt sich der Junge in der Haltung des einsamen Wolfes, die er sich von den Detektiven seiner Filme abschaut¸ der frühe Tod der Mutter und die Sprachlosigkeit seines bemühten, aber überforderten Vaters haben Gideons Vorliebe für die Isolation zusätzlich befördert. Er redet sich ein, dass ihn der Abstand zu anderen vor Verletzungen schützt und er alles, was er braucht, in seinem winzigen Zimmer hat – und merkt im Verlauf der Handlung zusehends, dass das nicht stimmt.

 

henry gideongreen

Zusätzliche Dimensionen erhält die Entwicklungsgeschichte durch die Kriminalhandlung und die liebevollen Hommagen an die Leidenschaften ihrer Figuren: Tess und Lily brennen für den seriösen Journalismus, was Gideon Gelegenheit gibt, sich darüber Gedanken zu machen, wie sich ein Weltbild zusammensetzt: „Fakten sind wichtig, denn sie offenbaren die Wahrheit. Aber ich beginne zu begreifen, dass Geschichten nicht weniger wichtig sind.“ Wobei es entscheidend ist, „wie wir sie erzählen, und auch, wer sie erzählt.“
Und natürlich erfährt man einiges über den Film Noir. Da werden Handlungen wiedergegeben und Details präsentiert wie etwa eine Kameraperspektive, die als „Dutch Angle“ bezeichnet wird: Die Kamera wird schräg gestellt, damit das ganze Bild Schlagseite bekommt – die Welt kippt aus der Waagrechten.

Das tut auch Gideons Blick auf die Dinge und vor allem auf seine Beziehungen, indem er den Abstand zu ihnen verringert. So wird aus einem an den Gefühlen anderer uninteressierten Besserwisser, der jeden und jede ungefragt mit verletzenden Wahrheiten konfrontiert, ein zuhörender junger Mann, der auch einmal die Perspektiven anderer einnimmt. Der reflektiert, was er sieht, hört, wahrnimmt. „Kameraeinstellung und Erzählweise vermitteln eine Perspektive, aber eben nur eine. Und die Welt hat mehr Perspektiven als die, die uns gerade präsentiert wird.“
Die Bereitschaft, Fragen zu stellen und Unsicherheiten zuzulassen, führt dann auch zu erstaunlichen Erkenntnissen, die sowohl die schwierige Beziehung zu seinem Vater umgestalten als auch den wahren Grund freilegen, warum Lily damals die Freundschaft beendet hat.

All das liest sich leichtgängig und unterhaltsam, grundiert mit feinem Humor, der oft aus der Freude am Spiel mit Sprache, Wörtern und Sätzen resultiert: „Eine Sekunde lang sieht Mia aus, als wollte sie mir eine knallen. Dann knallt sie mir eine.“ Ein weiterer Pluspunkt: der Held darf sympathischerweise bei all seinen Entwicklungsschritten im Kern so bleiben, wie er ist. Er muss sich nicht ändern, um Freunde zu finden - sondern nur die Art, wie er mit den anderen umgeht. Seine Eigenheiten muss er nicht ablegen, weder werden sie gefeiert, noch müssen sie überwunden werden: „Ich dachte, das Anderssein machte aus mir einen besseren Menschen, und alle anderen schienen das Gegenteil zu denken. Vielleicht ist es weder Gabe noch Fluch, weder gut noch schlecht, weder schwarz noch weiß. Es ist einfach so.“

Karin Haller