Joey Goebel: Freaks

Sie sind „Freaks“: Der junge afroamerikanische Philosoph und Visionär Luster, der permanent weltverbessernde Selbstgespräche führt. Die 80jährige Opal, unfreiwillige Insassin eines Altersheimes, die es jetzt mit Sex und Rock´n Roll noch einmal so richtig krachen lässt.

Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog
Zürich: Diogenes 2006


Sie sind „Freaks“: Der junge afroamerikanische Philosoph und Visionär Luster, der permanent weltverbessernde Selbstgespräche führt. Die 80jährige Opal, unfreiwillige Insassin eines Altersheimes, die es jetzt mit Sex und Rock´n Roll noch einmal so richtig krachen lässt. Ihr gewaltaffiner Schützling Ember, ein achtjähriges Mädchen, von deren Sprache und Aktionen jeder Hooligan noch etwas lernen könnte. Aurora, 19 Jahre alt und mit einem umwerfenden Äußeren gesegnet, was sie zu konterkarieren versucht, indem sie ihre Stripshow missionarisch anlegt oder sich mal eben für ein paar Wochen in einen Rollstuhl setzt. Und der aus dem Irak stammende Ray, der nur aus einem Grund in die USA kam: den Mann zu finden, den er im Golfkrieg angeschossen hat, um sich bei ihm zu entschuldigen.

Diese fünf einzigartigen Charaktere bilden die Sprecher des neuen Romans von Joey Goebel: „Freaks“, im englischen Original noch eindeutiger: „The Anomalies“. Sie gehen zwar notgedrungen arbeiten, zur Schule oder zur wöchentlichen Therapiesitzung, doch ansonsten bestehen sie auf ihrem Recht auf ein Verhalten jenseits aller Konventionen. Luster, Opal, Ember und Aurora verweigern sich ihrer Umwelt mit kompromissloser Radikalität, voller Wut und Verachtung für alles und jeden. Ray wiederum, nicht nur ganz offensichtlich „arabischmäßig“, sondern auch noch latent schwul, ist von der rührenden Sehnsucht nach einer für ihn unerreichbaren Normalität getrieben.

Sie fallen auf, irritieren, brüskieren. Weil sie anders aussehen als die anderen, anders reden, sich anders verhalten. Weil es ihnen egal ist, wie sie wirken.

Der Zufall bringt die Außenseiter zueinander. Einige Wochen lang brechen sie aus ihrer Beziehungslosigkeit aus, leben gemeinsam ihren Traum von einer Punkrock - Band und ihre Version von „Familie“. Sie proben exzessiv und treten sogar auf, ein einziges Mal. Dass der Gig nicht den Beginn einer Karriere, sondern das Ende der Gemeinschaft darstellt, liegt in der Natur der Figuren und ihrer Schicksale. Die führen ins Gefängnis oder ins Kinderheim, zurück in den Irak oder ins Kloster. Wo sie sich hinter realen oder imaginären Mauern bezeichnenderweise zum Teil wohler fühlen als in der sogenannten „Freiheit“, in der sie ihre Identität erst recht nicht leben konnten.

Cover
Die Handlung, die der Autor selbst als „grob gestrickt und an den Haaren herbeigezogen“ bezeichnet, ist dünn. Die Charaktere sind es nicht, ganz im Gegenteil.

Sie sind extrem und überzeichnet, schrill und exzentrisch, intensiv und leidenschaftlich. Wie sie sich der gesellschaftlichen Norm entziehen, zeitigt Irritation und Komik. Sie bringen einen zum Lachen, ohne selbst lächerlich zu sein.

Vor allem die Passagen, in denen der des Englischen noch nicht hundertprozentig mächtige Ray seine Sprachkreationen zum Besten gibt, erheitern enorm. Es gibt Slapstickeinlagen, irrwitzige Dialoge, Begegnungen der dritten Art, wie es nicht anders sein kann, wenn „einsame Aliens“, um eine Kapitelüberschrift zu zitieren, auftreten. Doch es ist, bei aller Schwärze und Durchgedrehtheit, nicht billiger Humor, mit dem das Buch fasziniert. Denn die Komik basiert immer auf der individuellen Tragödie seiner Figuren. Natürlich ist der Humor auch Geschmackssache, so wie sich das ganze Buch weder in seiner Sprache noch in seinen Szenen an die Regeln des guten Geschmacks hält. Die sind dem Autor offensichtlich so egal wie seinen Figuren.

Es ist kein psychologischer Roman, der Charakterstudien präsentiert. Er stellt scherenschnittartige Figuren in ein Zeitfenster und lässt sie verschiedene Einzelsituationen aus ihrer jeweiligen Sicht erzählen. Der sehr schnelle, sprunghafte Wechsel der Perspektiven fügt sich zu einer rasanten Collage, der man anmerkt, dass der Text ursprünglich als Drehbuch konzipert war. Begleitet werden die Hauptdarsteller von Nebenfiguren, die auch ihre Sicht der Dinge zum Besten geben dürfen. Vertreter des sogenannten „normalen Lebens“, Lehrer, Polizisten, Eltern, Brüder, Therapeuten - Repräsentanten der Mehrheit in diesem Kaff in Kentucky, in dem der Text angesiedelt ist. Da prallen Welten aufeinander. Und es ist klar, wem die Sympathien des Autors gehören.

„Freaks“ erzählt vom bedingungslosen Anderssein. In das man nicht freiwillig hineinrutscht, für das man sich aber irgendwann ganz bewusst entscheidet. Das nicht glücklich macht, sondern einsam und wütend. Denn ein „Freak“ ist man immer nur für die anderen. Nie für sich selbst.

Karin Haller