Verena Hochleitner: Flimmern

Erzählt aus den drei verschiedenen Perspektiven der Hauptfiguren, wodurch sich Fremdwahrnehmung und Eigenwahrnehmung auf das Beste ergänzen.

Mannheim: kunstanstifter 2023. 352 S., € 26,80 ISBN 978-3-948743-09-3

„Wir passen aufeinander auf, gut? Wir dürfen uns nur ja nicht trennen lassen!“ Bewusst stellt Verena Hochleitner eine Passage vom Ende der Geschichte – zwei Jugendliche sitzen gefesselt am Boden eines Fahrzeuges – als Prolog auch an den Anfang. Geht es doch nicht zuletzt um Solidarität, Freundschaft und Liebe. Darum, aufeinander aufzupassen, füreinander da zu sein. Davon erzählt die Wiener Kunstschaffende, die sich bisher vor allem als Illustratorin und kinderliterarische Autorin einen Namen gemacht hat, nun in ihrem ersten Jugendroman „Flimmern“. In Wort und Bild – umfangreiche ganzseitige Schwarz-Weiß-Illustrationen fügen sich mit dem Text zu einem homogenen Ganzen.

Dass sich Sydney, Katha und Nico zu einer Gemeinschaft zusammen finden, ist nicht vorherzusehen, auch wenn sie in derselben Klasse sitzen. Zu verschieden sind ihre familiären Hintergründe, zu unterschiedlich ihre Charaktere: Die geheimnisvolle schöne Katha, die allein in der letzten Reihe ständig etwas kritzelt, eine schweigsame Beobachterin, die ungewollt immer die Aufmerksamkeit auf sich zieht; Nico, die sich geradezu unsichtbar machen kann und sich nur beim Klettern selbstbewusst fühlt - und bei aller Schüchternheit doch Mut und Entschlossenheit beweist, wenn es darauf ankommt. Der sympathische, offene Sydney, mit dem jeder gleich befreundet sein will - und nicht weniger unsicher ist, auch wenn es nicht danach aussieht: Klare Gefühle – „das würde er sich auch einmal wünschen. Etwas sicher wissen. Wie oft er schon etwas gewollt oder gewünscht hat, aber gewusst, gewusst hatte er noch nie etwas. Das sollte einem an der Schule beigebracht werden: Wie das geht, dass man etwas weiß.“

Langsam entwickelt sich zwischen den drei Jugendlichen ein Dreiecksgefüge mit wechselnden Beziehungslinien: Sydney verliebt sich in Katha, ohne dass diese ihn wahrzunehmen scheint, Nico findet Sydney anziehend und bewundert Katha aus der Ferne. Wie Planeten im All umkreisen sie sich, kommen einander nahe, so wie auf dem Wandertag, an dem sie sich im Wald verirren. Nico wird Katha küssen, und es wird ganz anders sein als der betrunkene mit Sydney auf seiner Geburtstagsfeier, an den er sich nicht einmal mehr erinnern kann. Doch auch wenn sie aufeinander prallen, sie entfernen sich wieder voneinander, warten jeweils auf Nachrichten von der anderen, und schaffen es doch nicht, sich selbst zu melden, ein Teufelskreis der Schüchternheit und des Zweifels. Verena Hochleitner erzählt aus den drei verschiedenen Perspektiven ihrer Hauptfiguren, wodurch sich Fremdwahrnehmung und Eigenwahrnehmung auf das Beste ergänzen. Unterteilt ist das Buch in drei Passagen: die Stadt, der Wald, das Haus. Schauplätze sind wichtig in diesem Roman.

 

Verena Hochleitner: Flimmern

Dreh- und Angelpunkt ist das zugemüllte, verwahrloste Haus, in dem Katha mit ihrer arbeitsunfähigen Mutter lebt – fast alle Mieter sind schon ausgezogen. Da tauchen Eric, Sabi und Flix auf, ein paar Punks mit blauen Haaren und einer Ratte namens Rosa Luxemburg, weil ihnen für ein Jahr das Gassenlokal und drei Wohnungen kostenlos überlassen wurden. Ein Kulturprojekt, die Pizzeria Anarchia, soll als Zwischennutzung dem Leerstand begegnen. Doch die Hinweise mehren sich, dass die Immobilienfirma keine altruistischen Zwecke verfolgt. Ein dubioser Detektiv taucht ständig auf, das Haus wird vorsätzlich sabotiert, die letzten Mieter bekommen Ablöseangebote. Katha solidarisiert sich mit den Aktivistinnen, die zur Wahlfamilie für sie werden, und auch Sydney freundet sich immer mehr mit ihnen an. Bis alles eskaliert….

„Flimmern“ ist ein Wien-Roman. Der Augarten ist zu erkennen, das neu gebaute Nordbahnviertel. Und natürlich die Pizzeria-Anarchia. Am 28. Juli 2014 räumte die Polizei in einer aufsehenerregenden Operation, an der 1700 Beamte, Wasserwerfer, Panzerwagen und ein Hubschrauber im Einsatz waren, ein besetztes Haus in der Leopoldstadt; im Text wurde die Mühlfeldgasse 12 zum Mühlengrund. Die Geschichte und ihre Personen sind fiktiv vor dem exakt recherchierten Hintergrund der damaligen Begebenheiten.

Doch sosehr das Buch die Themen Immobilienspekulation, Zwangsräumung und Gentrifizierung in den Blick nimmt – im Zentrum stehen drei Jugendliche auf der Suche nach ihrer Herkunft, nach Freundschaft und der Liebe, die sich für sie selbstverständlich und richtig anfühlt. Sydney, Katha und Nico werden sie finden. Viele verschiedene Formen von Gemeinschaft sind möglich. Wenn man aufeinander aufpasst.

Karin Haller