Susan Kreller: Elektrische Fische

„Ich bin in einem Deutsch gelandet, in dem ich mich immer wieder verlaufe.“

Hamburg: Carlsen 2019 | 192 S. | € 10,99 | ab 12 Jahren


Als ihre Mutter nach der Trennung vom Vater mit den Kindern zurück nach Deutschland zieht, ist es nicht nur die Sprache, in der sich Emma, wiewohl in Dublin zweisprachig aufgewachsen, verloren fühlt. Im Haus der Großeltern, in dem der Hund am gesprächigsten ist, in der Schule, in der schon ein irischer Vorname ausreicht, um gemobbt zu werden, in dem trostlosen Dorf in der ehemaligen DDR, in dem die meisten Läden dicht gemacht haben, hat sie kein Zuhause mehr. Alles ist fremd, schmeckt und riecht anders. Man winkt hier den Schulbus nicht heran, weil in Deutschland der Bus auch ohne Winken hält, keiner bekreuzigt sich, wenn er an einem Friedhof vorbeifährt. Die Menschen scheinen grundsätzlich anders zu sein, für Emma ist die Freundlichkeit der Deutschen „wie ein gekipptes Fenster“, die der Iren „wie ein offenes Schiebefenster“.

Die drei Geschwister gehen unterschiedlich damit um: Dara, der Älteste, versteckt sich scheinbar emotionslos hinter einer Maske vordergründiger Anpassung, Aoifa, mit ihren acht Jahren bemerkenswert kompromisslos und konsequent, hört mit dem Reden ganz auf - wenn sie kein Zuhause mehr hat, hat sie auch keine Sprache mehr. Die Mittlere, Emma, beschließt schon unmittelbar nach der Ankunft, „dass ich so schnell wie möglich zurückkehren werde. Nach Hause.“ Nun kennt sie zwar das Ziel, das Haus ihrer irischen Großeltern, aber nicht den Weg dorthin. Bis ihr Mitschüler Levin anbietet, ihr bei der heimlichen Flucht nach Dublin zu helfen. Erst später entdeckt Emma, dass Levin ihre Einsamkeit nicht zufällig so gut versteht. Sondern auf andere Art teilt – seine Mutter leidet unter einer schizophrenen Psychose.

Susan Krellers neuer Jugendroman „Elektrische Fische“ erzählt von Menschen, die ihr Zuhause verloren haben. Von Erwachsenen, die es freiwillig hinter sich lassen wie die Mutter, die als Aupair nach Irland geht, dort der Liebe wegen bleibt und immer stärker unter Heimweh leidet, je öfter ihr Mann betrunken aus dem Pub kommt. Und zurück in ihrem Elternhaus erstaunt erkennt, dass ihr Heimweh in Irland geblieben ist. Es erzählt von Kindern und Jugendlichen, die das Zuhause unfreiwillig verlassen müssen wie die drei Geschwister, die mitten im Schuljahr aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen werden. Oder von jungen Menschen, die im nicht örtlichen Sinn heimatlos werden, wenn die Familie auseinanderbricht. Was ist „zu Hause“, was kann „Heimat“ bedeuten? Die erste Antwort, die der Text gibt, ist: die Muttersprache: „Die englische Sprache bin ich. Deutsch spreche ich nur.“ Schlüssigerweise mischt die Autorin in den Text, der ja die Stimme der Ich-Erzählerin Emma wiedergibt, grundsätzlich englische und auch irische Wörter – ein Glossar findet sich am Ende des Buches. Susan Kreller, studierte Germanistin und Anglistin, die über deutsche Übersetzungen englischsprachiger Kinderlyrik promoviert hat, setzt sich seit Jahren mit den Implikationen von Sprache auseinander – eine feste Basis, auf der sich „Elektrische Fische“ sicher und leicht bewegt. Der Umgang mit Worten ist unangestrengt und treffsicher: Zitat Emma: „Ich habe hier nichts verloren, nicht hier. Nur anderswo. Alles.“

Cover
Die Autorin vermittelt die Gefühle der Figuren, in dem sie Sprache als emotionalen Spiegel einsetzt, ausdruckstark, am Punkt formuliert, mit vielen ungewöhnlichen Bildern. Als Aiofa von ihren Mitschülern verspottet wird, weint sie sich nicht etwa die Seele aus dem Leib, sie „weint sich den Vormittag aus den Augen“, „schmeißt ihre Sprachen schluchzend in den kalten Morgen hinein, Englisch, Irisch, eine Art Chinesisch.“ Für manche Begriffe muss Emma einfach ins Englische wechseln: „… ein Wort schießt mir durch den Kopf, home schießt mir durch den Kopf, weil „Heimat“ zu lange dauert, zwei endlose Sekunden, keine Zeit dafür, und auf der Haut kann ich fühlen, dass home dort ist, wo du gemocht wirst, wo dich zwei Menschen mögen oder zwanzig oder nur einer, einer reicht völlig.“ Das ist die zweite Antwort auf die Frage, was „zu Hause“ sein kann: ein Mensch, dem du etwas bedeutest. Die Ich-Erzählerin findet sie erst am Ende des Buches, der oder die Lesende erkennt sie schon früher. Zieht noch vor Emma seine Schlüsse, wenn diese feststellt, dass sie alles Mögliche vermisst, aber nicht ihren Vater, dass ihre ehemaligen Freundinnen sich schon lange nicht mehr melden, dass es in Irland niemanden gibt, der auf sie wartet. Der sie vermissen würde, wenn sie geht … Außergewöhnliche sprachliche Präzision und Tiefe, hohe Empathie mit den Figuren ohne Schuldzuweisungen, dichte Spannung durch den Plotmotor der geplanten Flucht – „Elektrische Fische“ ist einer der Höhepunkte der aktuellen jugendliterarischen Saison.

Karin Haller