Karlijn Stoffels: 1:0 für die Idioten

„1: 0 für die Idioten“ ist die facettenreiche Schilderung einer Gruppe von Jugendlichen, die sich außerhalb der Gesellschaft ihre eigene Gemeinschaft schafft.

Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Weinheim: Beltz & Gelberg 2009


„Zebbie marschiert immer noch im Flur auf und ab. Rayela steht schon seit heute früh. Kein Sozio hat es geschafft, sie von der Stelle zu bewegen. Wenn ihre Eltern sie abholen, müssen sie mit einem Pritschenwagen kommen und sie wie ein Brett hinten drauf schieben. Der Ort, den sie sich diesmal mit viel Gespür ausgesucht hat, ist direkt vor der Waschmaschine. Weil Carmen dadurch nicht waschen kann, hat sie keine saubere Kleidung mehr, jedenfalls in ihren Augen nicht. Deshalb sitzt sie den ganzen Tag in der Badewanne.“

Diese vorweihnachtliche Szene aus Karlijn Stoffels neuem Jugendroman „1: 0 für die Idioten“ spielt nicht in einem Internat, sondern in einer jugendpsychiatrischen Anstalt mit dem schönen Namen „Villa Strandlust“. Dort ist die 15jährige Louisa nach einem Selbstmordversuch gelandet – so wie die unter einem Waschzwang leidende Carmen, die selbstzerstörerische Jezebel, der aggressive Cor und Hassan, der sich in der Überzeugung, noch im Mutterleib zu sein, nur unter seiner Wolldecke sicher fühlt: „Ihre“ Gruppe, in der Louisa mit ihren eigenen Neurosen und Verhaltensauffälligkeiten nicht auffällt.

Ganz im Gegenteil. Hier ist sie nicht „Lousa“, die Verliererin, die an allem scheitert und das Gefühl hat, mit gar nichts leben zu können. Hier ist sie diejenige, die ihren Mitpatienten helfen kann – obwohl das eigentlich nicht ihre Intention ist. Aber irgendwie scheint sie immer zu spüren, was die anderen andere gerade brauchen. Und weil deren Verhaltensweisen, wie absonderlich sie auch sein mögen, für Louisa ganz normal sind, kann sie ungezwungen kreativ damit umgehen. Wenn Hassan darunter leidet, auf seine Decke verzichten zu müssen, wird er eben in Packpapier eingewickelt. Wenn das einstige musikalische Wunderkind Daniel nach einem Unfall nur noch einen einzigen Ton spielen will, übernimmt Louisa schon mal die Rolle des Klaviers und legt sich lang hin. Was die Ich-Erzählerin auszeichnet, ist ihre scharfe Beobachtungsgabe und ihr intuitives Gefühl für andere.

„Rein“ und „raus“, zwei für Lousia zentrale Begriffe, markieren die gegensätzlichen Pole ihrer Welt. Einerseits ist sie „drinnen“, steckt mitten in der geschützten Gruppe der Villa Strandlust, andererseits ist sie „draußen“, unfähig, Vertrauen zu entwickeln und Nähe zuzulassen.

Cover
In diesem Wechselspiel zwischen Teilhabe und Distanz beobachtet und kommentiert sie sich selbst und ihre Umwelt mit bissigem Sarkasmus. „Weil ich neu bin, muss ich einen Kreis zeichnen, in dem ich meinen Gefühlen einen Ort und eine Farbe gebe. Ich komme gut voran. Den Kreis habe ich schon“. Louisas Darstellungen sind zwar trocken und ironisch, doch niemals bösartig. Die Autorin trifft genau den richtigen Ton zwischen Komik und Tragik, zwischen Emotionalität und Sachlichkeit.

Es ist eine große erzählerische Leistung, diese Figur in ihrer Komplexität so glaubhaft und schlüssig zu zeichnen, das Leben in der Villa Strandlust in einer runden Abfolge von Alltagsszenen, Therapiesitzungen und Ausnahmesituationen so zu beschreiben, dass das Gefühl von Authentizität entsteht. Dabei stehen nicht die Biographien der Patienten oder die psychologischen Hintergründe der Krankheiten im Focus, nicht einmal bei der Hauptfigur selbst. Was das Mädchen in ihrer Kindheit erlebt hat, wird angedeutet, jedoch nicht auserklärt. Nur soviel wird klar: Dass die hochgradig unsympathisch dargestelle Mutter eine Schlüsselrolle in dieser Entwicklung einnimmt. Der Text schlägt ein paar Anwortmöglichkeiten vor und gibt sich mit einer Menge offener Fragen zufrieden. Offen bleibt dementsprechend auch das Ende. Louisa verlässt zwar nach einem Jahr die Villa Strandlust, um in einer betreuten Wohngemeinschaft zu leben, doch wie sie selbst weiß, liegt noch ein langer Weg vor ihr: „Es ist noch ein ganzes Stück. Ich habe Angst.“

„1: 0 für die Idioten“ ist die facettenreiche Schilderung einer Gruppe von Jugendlichen, die sich außerhalb der Gesellschaft ihre eigene Gemeinschaft schafft. Keine fürs Leben, nicht einmal eine für die gesamte Dauer ihres Zusammenseins, aber eine, die ihnen punktuell Halt und Sicherheit vermittelt. Freundschaft ist möglicherweise doch mehr, als nur dieselben Leute nicht ausstehen zu können, wie Louisa vermutet. Was Freundschaft, was Liebe sein kann – das findet sie vielleicht nach dem Ende des Buches heraus. Und bis zum Buchende begleitet man das Mädchen wirklich gerne, mit Sympathie und Interesse.

Karin Haller