Pascale Quiviger: Eckstein

Band 1: Die Kunst des Schiffbruchs
Aus dem Französischen von Sophia Marzolff. Zürich: Atlantis 2022. 480 S., € 20,60. ISBN-13 978-3-7152-3002-3

Märchen müssen nicht zwingend mit „Es war einmal“ beginnen, nicht die klassischen und nicht die zeitgenössischen, schon gar nicht dann, wenn sie eigentlich auch eine Abenteuererzählung sind. Und ein phantastischer Roman. Der dergestalt zwischen den Genres oszillierende erste Band der Tetratrologie „Eckstein. Die Kunst des Schiffbruchs“ beginnt mit den Worten: „Die Woge sah aus wie ein schneebedeckter Gipfel“. Ein Satz, der den Rhythmus vorgibt für eine Erzählung voller Spannung und Romantik, voller märchenhaft-phantastischer Elemente und etablierter Motive klassischer Seefahrergeschichten.

Zu Beginn befinden wir uns an Bord der „Isabelle“, die schon zwei Jahre lang auf Expeditionsfahrt ist – Prinz Tibald will auf See nicht nur seinen Verpflichtungen als Thronerbe des Königreichs Eckstein entkommen, sondern auch seinem skrupellos-bösartigen Halbbruder Jasper und der nicht minder kaltherzigen Stiefmutter. In der ihm bedingungslos ergebenen Mannschaft der Isabelle hat Tibald seine eigentliche Familie gefunden, und als die entflohene Sklavin Ema als blinder Passagier an Bord kommt, findet der Prinz auch seine seelenverwandte Prinzessin.

Und weil diese märchenhafte Abenteuergeschichte nicht nur wilde Stürme auf See und Amputationen an Bord eines Schiffes zu bieten hat, sondern eben auch vorherbestimmte Liebe, die alles zum Leuchten bringt, geht es zu Wasser wie zu Lande ums Ganze: Da wird auf Eckstein nach dem Tod des Königs – der vermutlich ein Mord war – zwischen den Brüdern um den Thron gekämpft, es gibt mythisch-verwunschene Wälder und ein namenloses Grauen, dem jährlich ein Neugeborenes geopfert werden muss, um den Frieden und den Wohlstand auf Eckstein zu bewahren. Denn das vordergründig so idyllische Königreich birgt ein dunkles Geheimnis, das – wie das Ende des Buches andeutet – mit Tibalds Stiefmutter Sidra zu tun hat. Wie und warum, bleibt natürlich offen, muss der erste Band einer mehrteiligen Saga doch mit einem Cliffhanger enden, neugierig machen auf den Fortgang der Geschichte.

 

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Und das schafft „Eckstein. Die Kunst des Schiffbruchs“ wirklich – es ist einfach richtig gut erzählt, bilderreich und wortreich, und dass in dieser Opulenz punktuell auch immer wieder Humor aufblitzt, ist kein Schaden. Dabei treibt die kanadische, nun in England lebende Autorin Pascale Quiviger die mit regelmäßigen Spannungshöhepunkten versehene Handlung zügig voran, ohne die Charaktere aus dem Blick zu verlieren. Nicht die liebenswerten Matrosen der „Isabelle“ in all ihrer Verschiedenheit, nicht die Bediensteten am Hof, die oft mehr freundschaftliche Begleiter*innen sind als Untergebene, und natürlich schon gar nicht die beiden Hauptfiguren.

Diese komponiert Quiviger als geradlinige Scherenschnitte, die – zumindest in diesem ersten Teil der Erzählung – keine Brüche aufweisen. Prinz Tibald ist durch Sensibilität, Empathie und Toleranz definiert, die von ihrer Vergangenheit gezeichnete Ema, die noch die Narben der Eisenfesseln an ihren Handgelenken trägt, durch Entschlossenheit, Mut und Hingabe. Der Prinz und die ehemalige Sklavin, die in ihrer Liebe problemlos Standesgrenzen auslöschen, repräsentieren eine neue, vorurteilsfreie Form von Gleichberechtigung. Wenn die dunkelhäutige, aus den Tropen stammende Ema im nördlichen Eckstein als „exotische Schönheit“ diskreditiert und mit Rassismus konfrontiert wird, ist Tibald vor allem fassungslos und beschämt, Ema selbst bleibt unbeeindruckt: „Diese Beleidigungen treffen mich kein bisschen.“

In dieser kaleidoskopisch bunten Geschichte, die trotz vielfach bekannter Erzählbausteine nie langweilig wird, haben auch höchst aktuelle Fragestellungen Platz. Wie funktioniert das Zusammenleben in einer Gemeinschaft, im Großen wie im Kleinen? Wie Hierarchien? Welchen Preis hat die Macht und welchen der Frieden? Tibald repräsentiert dabei in seiner Überzeugung, dass der Monarch dem Volk zu dienen habe und nicht umgekehrt, eine grundsätzlich demokratische Richtung; nach seiner Thronbesteigung führt er zum ersten Mal in der Geschichte Ecksteins einen rein weiblichen Ältestenrat ein, und an einer Stelle entwirft er sogar die Idee eines allgemeinen Wahlrechts. Tibalds Kontrahent, der machthungrige Jasper, verkörpert natürlich das entgegengesetzte Prinzip, die Diktatur. Wobei er vermutlich nur ein Instrument in den Händen seiner mysteriösen Mutter Sidra ist, die einen abgrundtief bösartigen Plan zu verfolgen scheint. Welcher das sein könnte, erfahren wir Anfang 2023, da erscheint Band 2: “Das Maimädchen“. Noch ein Grund, sich kurz vor Weihnachten auf den kommenden Frühling zu freuen…

Karin Haller