Terry Pratchett: Dunkle Halunken

„Die Abflüsse und Abwasserkanäle waren mehr als nur voll, sie quollen über und würgten hoch, was sich darin angesammelt hatte: Schmutz und Schmiere, tote Hunde, Katzen, Ratten und Schlimmeres.“

Aus dem Englischen von Andreas Brandhorst
München: ivi 2013


„Die Abflüsse und Abwasserkanäle waren mehr als nur voll, sie quollen über und würgten hoch, was sich darin angesammelt hatte: Schmutz und Schmiere, tote Hunde, Katzen, Ratten und Schlimmeres.“ Schon der Beginn des neuen Romans von Terry Pratchett, „ Dodger“, in der großartigen Übersetzung von Andreas Brandhorst „Dunkle Halunken“, bricht wortgewaltig über den Lesenden herein. Offensichtlich ist der britische Star-Autor nicht nur auf seiner mittlerweile über 40 Bücher umfassenden Scheibenwelt zu Hause, sondern auch im sehr realen London des 19. Jahrhunderts.

Es ist eine ziemlich dunkle Welt, durch die er seinen Helden, einen siebzehnjährigen Straßenjungen, laufen lässt – und das nicht nur, weil ein Gutteil der Handlung in der Kanalisation spielt. Denn Dodger ist ein „tosher“, ein „Dreckwühler“, der in den Abwasserkanälen nach Wertgegenständen sucht. Von dort steigt der junge Mann deus ex machina gleich auf, um ein Mädchen zu retten, das von zwei Männern misshandelt wird. Und wie der Zufall bei Pratchett es so will, handelt es sich dabei nicht um Mary von nebenan, sondern um eine deutsche Prinzessin, die vor ihrem Ehemann nach England geflohen ist. Nun gilt es, Simplicity vor ihren Verfolgern zu schützen – und sie gleichzeitig für sich zu gewinnen, denn natürlich verliebt sich Dodger Hals über Kopf in die goldhaarige Schönheit.

Hilfe bekommt er dabei von einem gewitzten Journalisten des Morning Chronicle namens Charles Dickens und dessen Freunden, dem Schriftsteller Henry Mayhew und der reichen Wohltäterin Angela Burdett-Courts. Sie sorgen tatkräftig dafür, dass Dodger mit seiner Angebeteten nach einer Vielzahl von Abenteuern schließlich ein Happy End feiern kann. Ritterschlag durch Queen Victoria inklusive.

Terry Pratchett schreibt mit traumwandlerischer Sicherheit an der Grenze zum trash, ohne sie jemals zu überschreiten – und bietet dabei Unterhaltung auf hohem Niveau. In jahrzehntelang geschulter schriftstellerischer Perfektion erzählt er mit einer Leichtigkeit, in der alles überzeugend und stimmig wirkt: Selbst wenn historische Figuren wie Dickens oder Sir Robert Peel, Gründer der ersten uniformierten Polizeitruppe im Vereinigten Königreich, auf den berühmten, aber fiktiven Sweeney Todd treffen – niemals entsteht der Eindruck von Bemühtheit. Dazu schwingt zwischen den Zeilen zu viel Selbstironie und Unbekümmertheit – Pratchett´s Umgang mit Fakten wie mit Märchen- und Abenteuermotiven ist spielerisch. Und einfach sehr, sehr komisch. Dieser Humor kommt subtil und en passant daher, oft auch zwischen Bindestrichen, drängt sich nicht auf. Und vielleicht kann man sich ihm deshalb so schwer entziehen.

Cover
Dabei ist dem Buch ein ernst zu nehmender Hintergrund eingeschrieben, ist es doch dem realen Henry Mayhew und seinem Werk „Die Arbeiter von London und die Armen von London“ gewidmet. Die Welt, in der „Dodger“ spielt, ist bevölkert von Menschen, die in bitterster Armut um ihre Existenz kämpfen – mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. „Dunkle Halunken“ ist erklärtermaßen eine Hommage an Jack Dawkins, „The Artful Dodger“, eine Figur aus „Oliver Twist“.

Wie dieser muss auch Dodger die Grenzen zwischen Recht und Unrecht als flexible Linien interpretieren, um überleben zu können. Was er mit wendiger Cleverness und optimistischem Grundvertrauen in das Schicksal schafft. Das braucht er auch. Dodger ist zwar ein Meister an Reaktionsschnelligkeit und Gewitztheit, aber er hat auch immer wieder unheimliches Glück, wenn´s drauf ankommt. Zum Beispiel, als er sich von Sweeney Todd die Haare schneiden lassen will …

Mit dessen Rasiermesser bewaffnet kämpft sich Dodger durch ein London voller Dreck und Gestank, das der Autor in einer teilweise sehr bildhaften Sprache beschreibt. Pratchett zeichnet das Elend dieser Zeit nachdrücklich, aber nicht bedrückend. Diese Welt riecht zwar nicht gut, und die meisten Figuren darin tun es auch nicht, aber der Autor macht sich auch daraus seinen Spaß. Wenn er dem Protagonisten etwa als Gipfelpunkt der olfaktorischen Zumutungen einen unbeschreiblich stinkenden Hunds namens Onan zur Seite stellt. Nur einer von einer Unmenge an Seitenhieben auf kulturelle, literarische, religiöse Traditionen.

Mit „Dodger“ ist Pratchett eine neue Figur mit einer Menge Charisma gelungen – der uns glücklicherweise weiterhin an seinem Leben teilhaben lässt: „Jack Dodger´s London Guide“ erscheint diesen Mai auf Deutsch.

Karin Haller