Renate Welsh: Dieda oder Das fremde Kind

„Ich probiere Geschichten an wie Kleider“, lässt Max Frisch seinen Gantenbein sagen. Geschichten sind wie Kleider – manche passen, manche nicht. Renate Welsh´s neues Buch „Dieda oder Das fremde Kind“ passt bis ins Detai

Innsbruck: Obelisk 2002


„Ich probiere Geschichten an wie Kleider“, lässt Max Frisch seinen Gantenbein sagen. Geschichten sind wie Kleider – manche passen, manche nicht. Renate Welsh´s neues Buch „Dieda oder Das fremde Kind“ passt bis ins Detail.

Der Stoff, aus dem die Geschichte gewoben ist, ist nicht leicht zu tragen. Er besteht aus der unerträglichen Einsamkeit eines sechsjährigen Mädchens, das aufs Land geschickt wird, um den Bomben des Zweiten Weltkriegs zu entkommen. Der Vater, ein Arzt, ist in Wien zurückgeblieben, die Mutter an einem Gehirntumor gestorben. Es gibt kein Gegengewicht zur harten Hilflosigkeit der überforderten Stiefmutter, die nur „die Frau“ ist, zu deren Vater, dem „Alten“: einem Nazi, der mit autoritärer Grausamkeit die Familie dominiert. Der ehemalige Ferienort, der in früheren Sommern Glück, Wärme und Unbeschwerheit bedeutete, ist zum Schauplatz emotionaler Kälte geworden.

Das Kind ist dieser Situation ausgeliefert und reagiert darauf mit dem verzweifelten Bemühen, sich und ihre Gefühle zu verbergen - bis zur völligen Distanzierung vom eigenen Ich: „Dieda“ besteht selbst darauf, so gerufen zu werden. Auf ihren richtigen Namen reagiert sie nicht. Sie ist – wie schon der Untertitel des Buches betont – „das fremde Kind“.

Der qualvolle Trotz, sich gegen die Gewalt und die Ungerechtigkeit des Alten, gegen die Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit ihrer Umwelt zu wehren, mündet in einen Kreislauf aus körperlichen und seelischen Schmerzen, der sie immer härter und unbeugsamer macht: Alles – nur keine Schwäche zeigen. „Aber ich habe nicht nachgegeben, ich habe nicht nachgegeben, ich habe nicht nachgegeben“. Und dabei immer verletzlicher werden.

„Dieda“ mauert sich in ihrem Unglück ein, ihr Hass und ihre Rachegefühle werden ihr Schutzwall. Die kleinen Zuwendungszeichen der Stiefmutter kann sie weder erkennen noch annehmen, die gemeinsamen Unternehmungen mit ihren Cousins sind nicht tragfähig genug, um sie aus ihrer Fremdheit zu befreien. Die einzige Fluchtmöglichkeit aus ihrer Vereinsamung, die Freundschaft zu ihrer Mitschülerin Gretel, kann nur punktuell wahrgenommen werden – denn Menschen, die eine Verbindung zu Diedas Vergangenheit darstellen, werden mit Strafsanktionen von ihr ferngehalten.

Alles macht sie zur Außenseiterin; ihre Intelligenz, ihre Phantasie, ihre selbst gewählte innere Emigration, ihre Rothaarigkeit: eine – wie sie sich selbst sieht – „böse Hexe“, die andere irritiert.

Cover
Eine Veränderung der Negativspirale wird erst durch einen Schauplatzwechsel möglich, als Dieda mit ihrer Stiefmutter zurück nach Wien geht und damit dem Wirkungskreis des Alten entkommt. Hier, am Ende des Buches, gibt es berechtigte Hoffnung für einen Neuanfang: den Wiederaufbau ihrer Beziehung zum Vater, eine Annäherung zur Stiefmutter, die Tragfähigkeit der verständnisvollen Liebe ihrer Großeltern. Diedas Selbstentfremdung bricht auf, als sie ihrer neugeborenen Halbschwester ihren richtigen Namen preisgibt.

Das in radikaler Innenperspektive erzählte Buch zeigt die Heimatlosigkeit eines weit über sein reales Alter hinaus gereiften Kindes, das in einer für sie unverständlichen Welt nach Erklärungen sucht. Erklärungen für die politischen Geschehnisse wie für die eigenen Gefühle, für „das große Durcheinander in ihrem Kopf“. Obwohl der zeitgeschichtliche Hintergrund – Nationalsozialismus, Einmarsch der Engländer, Rückkehr ins zerbombte Wien – nur fragmentarisch erzählt wird, bildet er eine bruchlose Einheit mit Diedas individuellem Schicksal.

In „Dieda oder das fremde Kind“ werden die Stärken einer Autorin deutlich, die seit Ende der 60er Jahre für Kinder, Jugendliche und Erwachsene schreibt und auf ein umfangreiches, vielfach preisgekröntes literarisches Werk zurückblicken kann: Die Fähigkeit, durch die Schilderung scheinbarer Nebensächlichkeiten und durch sensible Sprachbilder eine dichte erzählerische Atmosphäre zu schaffen. Das unprätentiös umgesetzte Motiv, Außenseitern und gesellschaftlichen Randgruppen eine Sprache zu geben. Bücher wie „Johanna“, in dem das Schicksal einer unehelich geborenen Magd in der Zwischenkriegszeit dokumentiert wird, oder „Drachenflügel“ über die berührende Beziehung eines Mädchens zu seinem behinderten Bruder zählen zu den Standards österreichischer Jugendliteratur. Renate Welsh feiert am 22. Dezember ihren 65. Geburtstag.

Karin Haller