Ali Benjamin: Die Suche nach Paulie Fink

Kann man einen anderen wirklich kennen, oder kennt man immer nur bestimmte Teile von ihm ­– die man eben wahrnehmen will?

Aus dem Englischen von Jessika Komina und Sandra Knuffinke
München: Hanser 2021. 352 S., € 18,50. ISBN-13 978-3-446-26949-1

„Das Ganze hat mich immer an eine von diesen Münzsortiermaschinen erinnert.“ In Caitlyns alter Schule wurden alle kategorisiert: Der mit dem Star Trek T-Shirt kam zu den Science Fiction Nerds, der durchtrainierte Typ in den Basketballshorts an den Sportlertisch. Und eine wie Anna Spang war für fieses Mobbing freigegeben. Schulklassen sind Paradebeispiele sozialer Gruppengefüge, in denen die einzelnen Mitglieder, gewollt oder ungewollt, festgeschriebene Positionen und Rollen einnehmen. Es gibt den oder die Anführer*innen, die Außenseiter, die unauffälligen Mitläufer*innen. In der kleinen privaten Dorfschule in Vermont, die in der heruntergekommenen Villa eines Großindustriellen logiert, ist das nicht so.

Am ersten Tag des neuen Schuljahres nach ihrem Umzug steht Caitlyn als Neue in der siebten Klasse der Mitchell School – und es ist ein Kulturschock. Die Lehrer*innen, die Unterrichtsmethoden, das an ein Spukschloss erinnernde Schulgebäude – alles ist anders und ziemlich ungewöhnlich. Um den Sportplatz unkrautfrei zu halten, weiden dort Ziegen, die Mittagspausen verbringen die Älteren mit den Kleinen aus der Vorschule. Und die zehn bemerkenswert individuellen Mitglieder der Klasse gehen ohne Hierarchien freundschaftlich-spielerisch miteinander um. Die Hosenanzug tragende Fiona mit der Vorliebe für starke Frauen, die Ukulele spielende Künstlerin Yumi, Gabby als Fan von „Amerika sucht den neuen Megastar“, der faktenliebende Henry: Sie sind wie sie sind und lassen einander auch so sein. Doch bei aller Verschiedenheit – eines eint sie: Sie vermissen ihren Mitschüler Paulie, den „furchtlosen Störenfried und wagemutigen Spaßvogel, der die Welt auf den Kopf gestellt und Chaos hinterlassen hat, wohin er auch ging“. Er ist nicht mehr da – keiner weiß warum und wohin er verschwunden ist. Und plötzlich findet sich Caitlyn als einzige Jurorin in einem Wettbewerb wieder, bei dem wie in einer Castingshow, „The Next Great Paulie Fink“ gesucht wird – so der Originaltitel des neuen Jugendromans von Ali Benjamin, in der deutschen Übersetzung „Die Suche nach Paulie Fink.“

 

benjamin fink

Um die Challenges des Wettbewerbs im Geiste der Legende Paulie gestalten zu können, führt Caitlyn Interviews mit ihren Klassenkameraden und den Lehrer*innen durch und spürt dem abwesenden Jungen nach, dessen Persönlichkeit für sie nur schwer zu fassen ist. Die Erinnerungen an Paulie sind zu divers und bruchstückhaft. Kann man einen anderen wirklich kennen, oder kennt man immer nur bestimmte Teile von ihm ­– die man eben wahrnehmen will?

„Die Leute gehen immer davon aus, sie wüssten alles, was es über mich zu wissen gibt. Aber wenn sie mir gegenüberstehen, sehen sie immer nur sich selbst“, zitiert Gabby eine ihrer medialen Vorbilder. Und Caitlyn stellt sich mehr und mehr die Frage, wieweit sie selbst die „Münzsortiermaschine“ vorgefasster Meinungen und Rollenbilder mitbedient.

„Die Suche nach Paulie Fink“ hat viel zu bieten. In formaler Hinsicht – der Text setzt sich ja aus verschiedenen Textsorten zusammen, vorrangig aus den dialogisch aufgezeichneten Interviews und den in der Ich-Perspektive Caitlyns gehaltenen Passagen. Daneben kommen, wie die Autorin selbst in den Anmerkungen erklärt, „diverse Erzählgattungen und -elemente zum Einsatz (Märchen, Parabel, Allegorie, Realie, Zeitungsartikel und Rede), und schließlich wird das Erzählen an sich unter die Lupe genommen.“ Aber auch inhaltlich gibt es viel zum Nachdenken und Darüberreden. Für Ali Benjamin steht Platons Höhlengleichnis im Zentrum, mit dem Kerngedanken: „Selbst wenn wir etwas noch so sicher zu wissen glauben – wir können uns irren. (…) Um unsere Höhle zu verlassen, müssen wir genau überprüfen, was uns erzählt wurde und wie diese Geschichten unser Weltverständnis und -wissen beeinflussen.“

Der Autorin gelingt es, dergestalt komplexe Gedanken in einer sehr unterhaltsamen Erzählung zu bringen: Die erinnerten Episoden mit dem grandiosen Narren Paulie, der schräge Schulalltag voller Situationskomik, die außergewöhnlichen Charaktere der Schüler*innen: Das ist alles schon richtig lustig. Dahinter liegt eine klassische Coming-of-Age-Story: Indem Caitlyn ihre Höhle – die alte Schule und gewohnte Umgebung – verlässt, durchläuft sie die Veränderung von einer innerlich verhärteten, gedankenlos mobbenden Mitläuferin zu einem offeneren, toleranteren und empathischeren Mädchen. Was im übrigen viel bessere Laune macht. So wie das ganze Buch.

Karin Haller