Sarah Jäger: Die Nacht so groß wie wir

«Das ist die Nacht, in der wir sterben müssen. Vom Ungeheuer verschlungen und dann wiedergeboren.»

Hamburg: Rowohlt rotfuchs 2021
192 S., € 18,00

„Wir sind uns unter die Haut gegangen“. Fünf Striche, fünf Stühle haben sie sich tätowieren lassen, Maja, Suse, Pawlov, Tolga und Bo, die im Laufe der Jahre zu einer untrennbaren Einheit zusammen gewachsen sind. Zuerst waren es, als platonische Freunde, Maja und Tolga, Suse und Pawlov, bis aus zwei und zwei vier wurde. Aber es brauchte Bo, mit dem Suse mal kurz was hatte, damit die Runde komplett wurde.

Fünf unterschiedliche Jugendliche, denen die Clique zur Familie geworden ist, alles machen und teilen sie miteinander, jede freie Stunde verbringen sie auf ihren Stühlen in der „Penne“, der Kneipe ums Eck.  Die intellektuelle Maja, die sogar in ihren Gedanken gendert und einmal das Land regieren wird, davon ist Suse überzeugt, die selbst viel chaotischer und impulsiver ist, nichts anbrennen, nichts loslassen und nichts entscheiden will; Pavlow mit dem Boxer-Haarschnitt und einer Ausstrahlung, vor der sich alle außerhalb der Gruppe fürchten; der introvertierte Tolga, von dem niemand weiß, was er wirklich denkt, der es hasst, wenn Blicke auf ihn gerichtet sind, aber einem zwei Köpfe größeren Jungen die Nase bricht, weil der lacht, wenn jemand weint. Weil man das einfach nicht macht. Und schließlich Bo, der einzige, der nicht wie die anderen aufs Humboldt-Gymnasium geht, sondern auf die Droste-Gesamtschule, nur einen Grenzstreifen auf einem Fußweg davon getrennt und doch in einer anderen Welt. Das Abitur hat er nicht geschafft, der Zeugnisverteilung der anderen vier kann er nur zusehen und mitfilmen.

 

jaeger die nacht so gross wie wir

In ihrem neuen Jugendroman „Die Nacht so groß wie wir“ stellt die Essener Buchhändlerin Sarah Jäger die fünf Jugendlichen bravourös in die Szenerie einer einzigen Nacht,  die Nacht der Abiturfeier, bei uns würde man Maturaball sagen. Sie markiert den Übergang von der Jugend in das Erwachsenenleben, und in den wenigen Stunden an dieser Bruchlinie schauen die Freundinnen und Freunde in die eigenen Abgründe wie in die der anderen. Manche Dämonen offenbaren sich schnell, wie der verzweifelte Hass Pavlows auf seinen Vater, der nach der Trennung eine neue Familie gegründet hat, ohne sich um die alte zu kümmern, andere Ungeheuer bleiben länger im Dunkeln. Denn, auch das zeigt sich, je weiter der Abend fortschreitet, der Glaube, dass sie – die eingeschworenen Freunde – alles voneinander wissen, ist ein Irrglaube. 

So wird diese Nacht tatsächlich zu einer Initiation, in der die fünf Freunde sich mit Verrat, Lügen und uneingestandenen Gefühlen konfrontieren und am Ende etwas hinter sich lassen müssen. Vom Ungeheuer verschlungen, wie Pavlow es nennt, um wieder geboren zu werden.

Sarah Jäger gewährt uns einen sehr direkten, unvermittelten Blick in das Innerste ihrer Figuren, die sie abwechselnd aus der Ich-Perspektive erzählen lässt, alle vier – Maja, Suse, Pavlow und Bo. Nur Tolga bleibt stumm, als würde sich nicht einmal die Autorin selbst anmaßen zu wissen, was er denkt. Dabei verleiht sie ihren Protagonist*innen eine je eigene Erzählstimme, gibt ihnen allen einen universellen jungen Ton, ohne den Versuch, dabei Jugendsprache zu imitieren. Man glaubt diesen Stimmen unbedingt, kommt ihnen nahe. Im Wechselspiel der Perspektiven, in die auch Rückblenden der jeweils jüngeren Ich-Erzähler*innen auf die Schlüsselmomente der Freundschaft eingewoben sind, in dem Miteinander von Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung entsteht das komplexe, vielschichtige Bild einer Gruppe von Individuen, die auf den ersten Blick so gar nicht zueinander zu passen scheinen. 

Was ist Freundschaft und wo hört sie auf? Was verbindet uns, was trennt uns? Wo sind die Grenzen von Freundschaft? „Die Nacht so groß wie wir“ stellt diese Fragen, ohne eindeutige Antworten zu geben, jede der Figuren hätte eine andere, so wie auch auf die letztlich zentrale Frage: „Was für ein Mensch will ich sein?“ Wird es mir gelingen, die Möglichkeiten zu nutzen, oder werde ich zu faul sein oder zu viel Angst haben? Werden sich die „ich könnte´s“ in der Zukunft in „ach, hätte ich nur´s“ verwandeln?

Am Ende dieser großen Nacht werden die alten Spielregeln nicht mehr gelten und die neuen noch nicht geschrieben sein. Die Stühle werden verrückt sein, und nicht mehr alle fünf besetzt. Diejenigen Freunde, die sich wieder zusammen gefunden haben am Morgen danach, werden am Eingang der Kneipe stehen und sich umschauen. „Noch wissen wir nicht. Wohin wir uns setzen sollen.“

Große Leseempfehlung!

Karin Haller