Laura Creedle: Die Liebesbriefe von Abelard und Lily

Lily und Abelard, ADHS und Aspergersyndrom – eine rundum ungewöhnliche Liebesgeschichte

Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Lehnerer
München: dtv 2021
352 S. | € 17,50



Die Liebesgeschichte zwischen dem berühmt-umstrittenen Philosophen Peter Abaelard und seiner Schülerin Heloise, die sich Anfang des 12. Jahrhunderts in Frankreich zugetragen hat, ist ja nicht wirklich gut ausgegangen – hat der Weltliteratur aber einen Briefwechsel beschert, der von Petrarca bis Voltaire einige Dichter inspirierte. Zum Lektürekanon von jungen Menschen Anfang des 21. Jahrhunderts gehören die mittelalterlichen Schriften vermutlich nicht. Und doch sind sie den beiden Hauptfiguren in Laura Creedles Debutroman „Die Liebesbriefe von Abelard und Lily“ nicht nur bekannt, sondern durch ihre Germanistenväter so sehr vertraut, dass sie ihre Chat-Kommunikation mit Zitaten aus den alten Briefen anreichern.

Klingt ungewöhnlich. Gewöhnlich sind auch Lily und Abelard nicht. Lily hat ADHS, leidet unter Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität, fällt durch hohes Sprechtempo, Kopfwackeln, Händefuchteln auf. Konzentration und Selbstregulation sind also nicht gerade ihre Stärken, ebenso wenig wie Impulskontrolle. „Distanzhalten ist nicht mein Ding.“ Was dazu führt, dass sie ihren Klassenkameraden Abelard in einer denkbar unromantischen Situation spontan küsst. Nicht wissend, dass es zu seinen größten Ängsten gehört, unvorbereitet angefasst zu werden – er hat das Aspergersyndrom.
Obwohl es auf den ersten Blick mehr Trennendes als Verbindendes gibt zwischen der chaotischen Lily und dem extrem fokussierten Abelard, entwickelt sich eine intensive und für beide ungewohnt intime Beziehung. Zunächst per sms, dann auch analog. Lily warnt ihn: „Ich rede aber viel. Das kann ich oft nicht verhindern.“ Worauf er zurückschreibt: „Und ich rede zu wenig. Das sollte sich ausgleichen.“


Laura Creedle: Die Liebesbriefe von Abelard und Lily

Sie redet ohne Punkt und Komma, wenn sie nervös ist, er braucht für eine Antwort oft sehr lange; sie macht ständig etwas kaputt, ihm ist es wichtig, Dinge wieder in Ordnung zu bringen; sie hat Schwierigkeiten, Termine einzuhalten, er tickt bei Unpünktlichkeit völlig aus. Abelard ist gut in der Schule, wie er selbst sagt, „aber dafür in nichts anderem“, die legasthenische Lily wiederum hat große Probleme in einem Schulsystem, das auf ihre speziellen Bedürfnisse keinerlei Rücksicht nimmt. Die beiden hochintelligenten Außenseiter mit Vorliebe für mittelalterliche Literatur ergänzen sich in all ihrer Verschiedenheit.
Und verstehen einander intuitiv. Beide sind durch die Erfahrung geprägt, als anders im negativen Sinn wahrgenommen zu werden, „korrigiert“ werden zu müssen. Lily wie Abelard haben seit ihrer Kindheit mehr Ärzte, Psychiater, Therapien und Medikamente kennengelernt, als ihnen lieb war. Dass sie im jeweils anderen erstmals einen Menschen gefunden haben, der sie nicht ändern will, ist der Kern dieser Liebe. Ihr ganzes Leben hat sich Lily „wie eine Teetasse mit Sprung“ gefühlt, für Abelard ist dieser Sprung sogar das Interessanteste an ihr. Für ihn ist sie perfekt, so wie sie ist. „Die Welt begreift Komplexität nicht. Nicht so wie ich auf alle Fälle.“
Doch die Beziehung wird auf den Prüfstand gestellt – Abelard geht nach New Mexico an ein College mit einem Programm für neurodiverse Studierende.

Die Ich-Erzählerin Lily versteht ihr Leben mit ADHS mit großer bildhafter Genauigkeit zu vermitteln – und die selbst diagnostizierte Autorin weiß spürbar, was sie ihre Figur erzählen lässt. Und doch ist das Buch keinesfalls auf die Thematik neuronaler Störungen zu reduzieren.
Natürlich ist es eine Liebesgeschichte und eine Entwicklungsgeschichte. Und eine Familiengeschichte. Nicht zuletzt lässt sich der Text auch als Portrait einer Familie mit sehr unterschiedlichen Mitgliedern lesen – die von der Ich-Erzählerin im Laufe des Buches immer differenzierter gesehen werden. Lily begreift, dass sie nicht nur im Schatten ihrer kleinen Schwester Iris, der Musterschülerin, fühlt, sondern diese sich auch in ihrem. Dass das Bild, das sie sich vom abwesenden Vater gemacht hat, überhaupt nicht der Realität entspricht. Dass ihre Mutter wie eine Löwin um ihre Töchter kämpft, was Lily erst spät sehen kann.

„Die Liebesbriefe von Abelard von Lily“ stellen sich die Frage, wie ein junger Mensch seinen Platz findet, in der Familie und in der Gesellschaft. Wie er sich selbst sieht und von anderen gesehen werden will, wenn er aufgrund von Gegebenheiten, die er nicht beeinflussen kann, erkennbar anders ist als die meisten anderen. Ob die Atypie mit all den Problemen, die sie verursacht, die eigene Identität konstitutiv ausmacht oder eben nicht. Es ist etwas anderes, aus der Masse herauszustechen, ein besonderes, einzigartiges Leben zu führen, wenn man sich nicht selbst bewusst dafür entschieden hat.

Karin Haller