
Susin Nielsen: Die gigantischen Dinge des Lebens
Eine Stimme für Ehrlichkeit und Mitgefühl, gegen Ungerechtigkeit und Lüge.
„Ich kann stolz verkünden, dass ich die Tierschutzwerbung in mindestens vierzig Prozent aller Fälle anschauen kann, ohne zu weinen.“ Der vierzehnjährige Wilbur in Susin Nielsens neuem Jugendroman „Die gigantischen Dinge des Lebens“ ist nicht gerade das, was man cool nennt. Im Schulorchester spielt er die Triangel, im Turnunterricht neigt er dazu, sich zu ducken, sobald irgendeine Art von Ball in seine Richtung geworfen wird. Er macht es seinem Mitschüler Tyler nicht gerade schwer, ihn immer wieder bloß zu stellen. Kein Wunder, dass Wilbur es vorzieht, unsichtbar zu sein. Keine unnötige Aufmerksamkeit erregen, Kopf runter, Mund zu.
In der Schule hat Wilbur sich mit seinem Außenseiterstatus ganz gut arrangiert, er ist nicht zutiefst unglücklich, einsam oder allein. Seine beiden Mütter Mum und Mup, die ihn zum Inbegriff von Offenheit, Freundlichkeit und Ehrlichkeit erzogen haben, umsorgen ihn mit liebevoller Fürsorge, mit dem Nachbarn Sal teilt er die Begeisterung für Aqua-Gymnastik und das Royal Ontario-Museum, wo sich die beiden regelmäßig unter ein riesiges Dinosaurierskelett legen, nach oben schauen und über das Wunderwerk Leben nachdenken. "Einen besten Freund zu haben, der einundsiebzig Jahre älter ist als ich, ist ein Geschenk“. Da ist es nicht ganz so schlimm, dass Wilburs gleichaltriger Freund Alex kurzfristig nicht mehr so viel Zeit für ihn hat, seit er mit Fabrizio zusammen ist. Und dann gibt es ja auch noch Templeton, den hässlichsten Hund der Welt – Wilburs Leben ist zwar wenig glamourös, aber sicher nicht lieblos. Und dass seine Erfolge beim anderen Geschlecht überschaubar sind, daran hat er sich gewöhnt. Bis Charlie, die französische Austauschschülerin, in sein Leben tritt und Wilburs Bedürfnis nach Selbstoptimierung deutlich steigert ….

Wilbur ist ein ganz besonderer Ich-Erzähler, der sich in so manchem von einem durchschnittlichen Vierzehnjährigen unterscheidet. Wer will schon freiwillig nach einem literarischen Schwein genannt werden oder sich von den Eltern freudig „Gürkchen“ rufen lassen. Er sieht die Welt aus seiner eigenen, leicht Forrest Gump-artigen Perspektive, und ist dabei sehr unterhaltsam. Das Buch ist in all seiner Vielschichtigkeit, bei der es nicht nur um lustige Themen geht, von der ersten bis zur letzten Seite unglaublich komisch – und von durchgängiger Wertschätzung für seine Figuren getragen.
Susin Nielsen schickt ihren liebenswert-naiven Anti-Helden laufend in peinliche Situationen, ohne ihn der Lächerlichkeit preiszugeben – Wilbur ist und bleibt Sympathieträger erster Güte.
Sein Ziel ist nicht wie in vielen anderen Coming-of-age-Stories die Identitätsfindung. Er weiß schon, was er will und was er schön findet, wie seltsam es auch für andere scheinen mag. Ihm geht es darum, mehr Selbstvertrauen und Durchsetzungsfähigkeit zu erreichen, zu sich selbst zu stehen und sich auch gegen andere behaupten zu können.
Die Charaktere, die ihn dabei begleiten, sind mit demselben trocken-lakonischem Humor gezeichnet wie der Protagonist selbst, zwar etwas schräg, aber vor allem herzlich und gütig. So wie auch Charlie, in die sich Wilbur so sehr verliebt. Dass sie einen recht eigenwilligen Kleidungsstil pflegt und markerschütternd schnarcht, tut seinen Gefühlen natürlich keinen Abbruch – Äußerlichkeiten, die für den Jungen mit dem goldenen Herzen ohne Belang sind.
Für Wilbur ist es denn auch ganz selbstverständlich, dass er zwei Mütter hat, sein bester Freund fast achtzig und sein anderer Freund schwul ist, dass er zum Senioren-Wasserturnen geht, gefühlvolle Gedichte schreibt. So unbefangen, wie in diesem Buch mit Diversität und Individualität umgegangen wird, so unverkrampft bezieht die Autorin auch das Thema Tod in die Handlung mit ein – weil es neben der Liebe und der Freundschaft eben.