Verena Kessler: Die Gespenster von Demmin

„Darum geht es schließlich, ums Aushalten.“

Berlin: Hanser Berlin 2020
300 S. | € 17,50 | ab 12



„Darum geht es schließlich, ums Aushalten“. So lautet einer der Schlüsselsätze aus Verena Kesslers beeindruckendem Debütroman „Die Gespenster von Demmin.“ Was es ist oder sein kann, das ausgehalten werden muss, davon erzählen zwei Figuren, die fünfzehnjährige Larissa, die nur „Larry“ gerufen werden will, und ihre neunzigjährige Nachbarin Frau Dohlberg. Bei beiden hat dieses „es“ mit Tod zu tun: Larissas älterer Bruder starb nur wenige Wochen vor ihrer eigenen Geburt bei einem Unfall, und auch die alte Frau hat ihre große Schwester Lotte schon als Kind verloren. Nicht bei einem Unfall. Ihre Mutter hat sich zusammen mit Lotte im Fluss ertränkt, damals, in den ersten Maitagen des Jahres 1945, als sich hunderte Menschen in Demmin, vor allem Frauen und ihre Kinder, aus Angst vor den einmarschierenden Rotarmisten umbrachten.

Über dem Leben der jungen wie der alten Frau schwebt geisterartig die vom Tod geprägte Vergangenheit. Larissa begegnet ihr offensiv, hilft am Friedhof aus, bereitet sich mit körperlichen Belastungsproben auf mögliche Folterungen vor, schließlich will sie Kriegsreporterin werden. In wild-entschlossener Naivität setzt sie sich extremen Situationen aus – und wird zu ihrem Glück immer wieder gerettet. Frau Dohlberg, die vor dem Umzug ins Heim ihren Hausstand auflösen muss und dabei ihre Erinnerungen wieder lebendig werden lässt, hat den Tod als Wahlmöglichkeit ohnedies seit Jahrzehnten bei sich – eingenäht in einem Nadelkissen.

Larissa, die Ich-Erzählerin, will ihren Bruder präsent halten, versteht nicht, warum die Mutter mit dem Schmerz nur fertig wird, indem sie Erinnerungsstücke wegräumt. Empathie ist nicht die Stärke dieser Jugendlichen. Das Mädchen denkt nicht daran, sich in ihre Eltern hineinzuversetzen, ebenso wenig, wie sie die Situation ihrer besten Freundin Sarina an sich heranlässt, deren Mutter an Krebs stirbt. Bis eine als Ausflug getarnte Flucht auch zu einem Perspektivenwechsel führt …

cover kessler die gespenster von demmin

Geschickt verbindet die Autorin das kollektive Trauma des historischen Massensuizids in der mecklenburgischen Kleinstadt am Ende des Zweiten Weltkriegs mit der individuellen Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen. Die beiden Erzählstränge werden parallel geführt, ohne dass die beiden Hauptfiguren miteinander sprechen. Sie ergänzen einander nicht nur inhaltlich, sondern vor allem auch in ihrer unterschiedlichen Tonalität.
Die Passagen aus der Perspektive der alten Frau lesen sich unsentimental melancholisch, Larissas Tonfall wiederum ist von einer trockenen Lakonie, die dem alles andere als heiteren Inhalt Witz und Leichtigkeit verleiht.

Der Balanceakt ist gelungen. Die 1988 geborene Autorin hat am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert und an mehreren Schreibwerkstätten teilgenommen, eine fundierte Ausbildung, die sich bezahlt gemacht hat. Der Roman ist bis ins Detail durchdacht, um nicht zu sagen, komponiert, in der Verschränkung der Erzähllinien, der Perspektivengenauigkeit, der Dichte in der Figurenzeichnung, dennoch wirkt er nicht überkonstruiert oder bemüht.
Verena Kessler lässt bewusst Leerräume, die Ereignisse der jeweiligen Vergangenheit fügen sich erst nach und nach im Verlauf des Textes zueinander, Geschichtsaufklärung ist nicht das Ziel. Ebenso wenig will der Roman nahelegen, welcher der beste Weg ist, mit Verlust und Trauer umzugehen. Es ist eine individuelle Entscheidung, die nicht verallgemeinert werden kann. Für Larissa liegt der Schlüssel sicher nicht in der sprachlosen Verdrängung, wie sie die Mutter praktiziert, die sich krampfhaft eine hoffnungsvolle Zukunft herbeisehnt, ohne sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen zu wollen. Aber auch nicht in der manisch-obsessiven Beschäftigung mit dem Tod. Diese Hauptfigur entkommt der Spirale ihrer Orientierungslosigkeit, dem Gefühl, dass alles falsch ist, erst dann, als sie ihren Egozentrismus überwinden kann. In dieser Geschichte kann man es besser aushalten, wenn man in einer Freundschaft Gefühle miteinander teilt – die eigenen wie die der anderen. Ganz am Ende hängt Larissa nicht mehr alleine kopfüber am Baum:
„Auf drei?“ fragt Sarina und beginnt zu zählen, ohne meine Antwort abzuwarten. Eins. Ich greife nach ihrer Hand. Zwei. Schließe die Augen. Drei. Und dann springen wir zusammen.“

Karin Haller