Jenny Valentine: Die Ameisenkolonie

Wie lebt man mit Schuld? Wie damit, etwas Unverzeihliches getan zu haben?

Übersetzt von Klaus Fritz
München: dtv 2011


Wie lebt man mit Schuld? Wie damit, etwas Unverzeihliches getan zu haben? Der siebzehnjährige Sam in Jenny Valentines neuem Jugendroman „Die Ameisenkolonie“ entscheidet sich für Flucht. In der Hoffnung, sein altes Selbst in einem brandneuen Leben hinter sich zu lassen, fährt er aus dem ländlichen Nichts zwischen Schafen und Weiden nach London. Taucht in der Anonymität der Großstadt unter, will verschwinden, zum blinden Fleck in einem Raum werden.

Doch der Zufall will es, dass er in ein marodes Mietshaus einzieht, dessen Bewohner ihn nicht in seinem einsiedlerischen Selbsthass belassen werden. Sam trifft auf Isabel, eine entschlossene kleine alte Frau, die nicht zu denjenigen gehört, die sich nicht einmischen. Und auf Bohemia, ein zehnjähriges Mädchen, das von ihrer fast ständig zugedröhnten Mutter vernachlässigt wird, nicht zur Schule geht, sich ihr Essen selbst organisieren muss. „Sie war auf eine Weise allein, wie ich es nie sein würde.“

Die ständig quasselnde Bohemia mit ihrem „Grabsteinlächeln“ und ihrer unstillbaren Sehnsucht nach Zuneigung stürzt sich voll kindlicher Naivität auf den zunächst widerwilligen Sam. Für sie sind sie Freunde – und umso schrecklicher ist es für das Mädchen, als er seine Wut über sich selbst an ihr auslässt. Nun ist es Bohemia, die wegläuft, und damit die entscheidende Wendung im Leben aller herbeiführt – denn das Ziel ihrer Reise ist Sams Heimatort, sind die Menschen, die er aus schlechtem Gewissen und Hoffnungslosigkeit verlassen hat, im Glauben, sie würden ihn für immer hassen.

Die junge britische Autorin Jenny Valentine weiß, wie man Spannung aufbaut. Sie wusste es in ihren Vorgänger-Romanen „Wer ist Violet Park“ und „Kaputte Suppe“, und sie weiß es in der „Ameisenkolonie“: Sie enthält dem Lesenden Informationen über Ereignisse vor, die die ganze Geschichte in Gang gesetzt haben, für den Protagonisten lebensentscheidend sind. Man muss praktisch bis zum Schluss warten, bis sich enthüllt, was passiert ist, was Sam nach London getrieben hat. Schon bald wird klar, dass es irgendetwas mit seinem Freund Max zu tun haben muss, einem hochintelligenten schüchternen Außenseiter, der nicht nur gern liest und Schach spielt, sondern sich auch noch brennend für Ameisen interessiert. Und immer mehr ahnt man, dass Sam nicht das war, was man wirklich einen guten Freund nennt …

Cover
Die Frage des „what happened“ ist das eine, was einen durch den Text treibt und an ihn bindet. Das andere ist die emotionale Nähe, die man zu den Charakteren lesend aufbaut.

Zu dem an sich selbst und seiner Schuld leidenden Sam, aber viel mehr noch zu Bohemia, diesem außergewöhnlichen kleinen Mädchen, das sich inmitten ihres chaotischen, verwahrlosten Lebens einen rührenden Glauben an die Menschen bewahrt hat. Die ihre Mutter liebt, auch wenn diese völlig unfähig ist, ihr ein physisches oder emotionales Zuhause zu bieten.

Diese beiden jungen Menschen, Sam und Bohemia, aus deren Ich-Perspektive abwechselnd erzählt wird, entwickeln gemeinsam die Handlung – die unterschiedlichen Sichtweisen auf die jeweils andere Figur und die übrigen Charaktere führen zu einer hohen Differenziertheit in der Personenzeichnung. Deren Färbung sich im Lauf der Erzählung auch verändert und erweitert. Empfindet man Sam zunächst als einen zwar verzweifelten und gebrochenen, doch durch und durch gutherzigen Menschen, verändert sich das Bild am Ende. Da bekommt er die Schattierung der gedankenlosen Grausamkeit eines Mitläufers dazu. Und sosehr man Cherry, Bohemias Mutter, in ihrem achtlosen Egozentrismus über weite Strecken des Textes verabscheut – so sehr wünscht man es ihr dann, dass sie es wirklich schafft, ihr Leben zu verändern und sich um ihr Kind und sich selbst zu kümmern. So, wie es am Ende des Buches als Möglichkeit in den Raum gestellt wird.

Denn darum geht es in diesem Buch: Anderen eine zweite Chance zu geben. Nicht nur zu verurteilen, sondern zuzuhören und dabei zu helfen, etwas zu verändern. Verantwortung füreinander zu übernehmen und sich umeinander zu kümmern. Am besten so wie Bohemia, in ganz uneigennütziger, absichtsloser Art. Nicht umsonst trägt das Buch den Titel des Bandes, der als Geschenk von Max für Sam zum Sinnbild all dessen wird, was er verloren hat: „Die Ameisenkolonie“. Denn „Ameisen gelingt nicht viel, wenn sie allein auf sich gestellt sind, aber zusammen können sie das Undenkbare erreichen.“

Karin Haller