Hannes Wirlinger: Der Vogelschorsch

Wenn sie auf der Betonmauer vor ihrem Haus sitzt, hat Leni alles im Blick. Sie sieht, wenn ihre Freunde, der Mühltaler Max und der Lederer Lukas, auf der staubigen Schotterstraße angeradelt kommen, oder sogar einmal die Feichtinger Simone, die dumme Kuh, die sicher nicht ihre Freundin ist.

Illustriert von Ulrike Möltgen
Berlin: Jacoby & Stuart 2019
304 S. | € 18,50


Wenn sie auf der Betonmauer vor ihrem Haus sitzt, hat Leni alles im Blick. Sie sieht, wenn ihre Freunde, der Mühltaler Max und der Lederer Lukas, auf der staubigen Schotterstraße angeradelt kommen, oder sogar einmal die Feichtinger Simone, die dumme Kuh, die sicher nicht ihre Freundin ist. Und sie sieht ihre neuen Nachbarn einziehen, den eigenartigen Jungen, der bei der größten Hitze einen Lodenmantel anhat und Hosen mit Bügelfalten und Hosenträgern. Die Kinder erzählen sich, dass er nicht richtig im Kopf ist, dass er langsamer denkt und deshalb auch in eine andere Schule geht, eine für solche wie ihn. Leni allerdings braucht nicht lange, um zu erkennen: „Blöd ist der Vogelschorsch nicht, nur anders.“
So nennt sie ihn für sich, „Vogelschorsch“. Weil er eine ganz besondere Beziehung zu diesen Tieren hat, er liebt sie und sie lieben ihn. Ein Rabe und eine Amsel sind immer in seiner Nähe, später auch eine Kohlmeise. Das ist, davon ist der Schorsch überzeugt, seine Mutter, die ihn und den saufenden, schlagenden Vater nicht einfach verlassen hat, sondern eben als Vogel wiedergekommen ist, um bei ihm sein zu können. „Für den Vogelschorsch schien die Welt sehr einfach zu sein. Er nahm alles, wie es kam.“

Für Leni allerdings ist die Welt alles andere als einfach, im Gegenteil, sie wird immer komplizierter. Wieso streiten ihre Eltern? Ist ihre Trennung endgültig? Warum gehen ihre besten Freunde zur Simone in den Pool schwimmen, wo sie doch wissen, dass das ihre Feindin ist? Warum knutscht sie selbst hemmungslos mit dem Lederer Lukas herum, obwohl sie doch mit dem Mühltaler Max zusammen ist, den sie ja eigentlich auch viel lieber hat? Wie kann sie dem Vogelschorsch helfen, der nicht begreifen kann, mit welcher Geschwindigkeit sich sein Leben verändert, als zuerst sein Vater und dann auch noch seine Großmutter stirbt?

Hannes Wirlinger lässt in seinem Debutroman „Der Vogelschorsch“ viele Fragen offen, weil die Ich-Erzählerin keine Antworten darauf hat. Und die Erzählung bleibt bruchlos in Lenis Perspektive, die sich zurückerinnert an die Zeit, als sie dreizehn, vierzehn war, damals in den 80ern irgendwo auf dem Land in der Nähe von Linz. Die Sache mit der Liebe ist beispielsweise so etwas Offenes, Unerklärliches, klar ist nur, dass man sich nicht vor ihr verstecken kann. „So blöd war die Liebe schon nicht, dass sie mich nicht fand.“

Cover
Der gebürtige Niederösterreicher kommt vom Drehbuchschreiben, und das merkt man dem Roman an. Immer wieder setzt er Lenis Vorahnungen und ihr Wissen, dass es kein glückliches Ende nehmen wird mit dem Vogelschorsch, zum Spannungsaufbau ein. Sehr visuell ist die Ausgestaltung der Schauplätze, da entstehen starke Bilder im Kopf: Die Schotterstraße durch das Dorf, der Bach, das Waldstück mit der riesigen Eiche auf der Lichtung, wo Leni immer ohne Grund kalt wird, der verwunschene Garten von Georgs Großmutter, der glitzernde Swimmingpool der Feichtingers.

Mit starken poetischen Bildern arbeitet auch die Darstellung von Lenis innerer Welt, die wütende Hilflosigkeit angesichts der streitenden Eltern, die Zuneigung zum Mühltaler Max, die körperliche Anziehung, die vom Lederer Lukas ausgeht, die Eifersucht auf die reiche Simone, der Beschützerinstinkt dem Vogelschorsch gegenüber, der deutliche Besitzansprüche in sich birgt. Es ist Leni sehr recht, dass sie ihn nur alleine trifft: „Ich wusste nur, ich wollte ihn nicht teilen.“
Instinktiv spürt sie, dass die Besonderheit des Jungen auch sie selbst verändert. Der Vogelschorsch muss nichts Außergewöhnliches leisten, um Lenis Leben zu bereichern. Das tut er schlicht, indem er ist, wie er ist. Ihr eine ganz andere Art der Wahrnehmung und Interpretation der Welt zeigt, enorm kreativ dabei, die Realität umzudeuten. Bis es ihm nicht mehr möglich ist.

Begleitet wird die Geschichte von den träumerisch anmutenden Schwarz-Weiß Illustrationen Ulrike Möltgens, in denen die renommierte Künstlerin die Poesie des Textes und den Schwebezustand, in dem sich die Ich-Erzählerin befindet, voller Sensibilität einfängt, diesen Balanceakt zwischen einander widersprechenden Gefühlen, bei dem Stimmungen so schnell umschlagen können wie das Wetter. Wo man keinen Überblick hat, selbst wenn man erhöht auf einer Mauer sitzt.

Karin Haller