Gabriele Clima: Der Sonne nach

„Es ist bestimmt nicht einfach, mit Behinderten umzugehen.“ Sätze wie dieser machen Dario wütend: „Behindert oder nicht, das ist doch scheißegal, wenn du gar kein Gespür dafür hast, was der andere will.“

Aus dem Italienischen von Barbara Neeb und Katharina Schmidt
München: Hanser 2019
160 S. | € 14,40


„Es ist bestimmt nicht einfach, mit Behinderten umzugehen.“ Sätze wie dieser machen Dario wütend: „Behindert oder nicht, das ist doch scheißegal, wenn du gar kein Gespür dafür hast, was der andere will.“
Dieses Gespür dafür, was einer will, der sich nicht ohne Hilfe bewegen und nicht sprechen kann, das hat der sechzehnjährige Dario instinktiv. Als er zur Pflegehilfe seines geistig und körperlich behinderten Mitschülers abkommandiert wird, muss er nicht lange überlegen, um zu verstehen, was Andy mit seinen Augen und seiner Körperhaltung sagt. Die Kommunikation ist für ihn so selbstverständlich und natürlich wie mit jedem anderen. Dabei würde man Dario auf den ersten Blick keinen Menschen anvertrauen, dessen Leben von Verlässlichkeit und Verantwortungsbewusstsein abhängt. Er ist unberechenbar und unbeherrscht, einer, der Einsamkeit und Verzweiflung mit trotziger Aggressivität zu verdrängen sucht. Ganz abgesehen davon, dass er regelmäßig kifft.

Seiner Neigung, nicht allzu viel nachzudenken, bevor er etwas tut, bleibt er trotz seiner neuen Aufgabe treu. In einer Spontanaktion entführt Dario Andy mitsamt Rollstuhl und fährt mit ihm in Richtung Golf von Neapel, wo er seinen Vater vermutet, der vor neun Jahren die Familie verlassen hat. Ein Ausbruch weg von allem, von Lehrern, die ihn für eine Niete halten, von einer hilflosen Mutter, die den Verlust des Vaters schmerzhaft spürbar bleiben lässt. Erstaunlicherweise bringt Darios kreative Scheißdrauf-Haltung die beiden Jungen – mittlerweile ist der Rollstuhl sogar motorisiert – nicht nur von einer absurden Situation in die nächste, sondern tatsächlich bis ans Ziel. Dario findet seinen Vater – mit seiner durchgeknallten Freundin in einem Lieferwagen hausend. Und Dario begreift, dass es nicht seine eigene Schuld war und nicht die seiner Mutter, dass der Vater gegangen ist.

„Der Sonne nach“, der neue Jugendroman des Mailänder Autors Gabriele Clima, ist ein klassisches Roadmovie, unterhaltsam und temporeich erzählt: Zwei Jugendliche sind unterwegs, um am Ende des Weges ein Stück weit besser mit ihrem Leben zurecht zu kommen. Dazwischen eine Fülle von wilden Begegnungen und Begebenheiten, die zum Lachen, Nachdenken, Staunen anregen.

Cover
Zentrale Thematik und Motive sind nicht neu und auch die Freundschaft zwischen einem Rollstuhlfahrer und seinem Pfleger ist seit dem Erfolg des Kinoschlagers „Ziemlich beste Freunde“ im populärkulturellen Mainstream beheimatet. Doch Clima geht es spürbar nicht so sehr um Dario, als vielmehr um die Figur des Andy. Im Nachwort schreibt er über das reale Vorbild: „Es ist die Geschichte von seiner Lebenslust, seinem eigenen Willen, sich selbst und den anderen zu beweisen, dass es bei einer Behinderung keine starren Grenzen gibt – und diese jedenfalls dehnbar sind.“

Es ist nur schlüssig, dass der Autor es nicht bei der Perspektive Darios belässt, sondern Andy eine eigene Stimme gibt, seine Gedanken imaginiert und sie ohne Anführungszeichen kursiv in den Text setzt. Wodurch sie nicht als direkte, sondern als innere Rede markiert sind. Es ist diese Stimme, die Dario hört oder fühlt und auf die er antwortet. So entstehen Dialoge wie der, den sie in einer luxuriösen Villengegend führen:
„Hmm“ meinte Dario, „da würde ich mich auch wohlfühlen, und du?“
Andy lächelte. Hast du das gesehen? sagte er. Das da hinten, das mit dem Flachdach?
„Nicht schlecht. Und was ist mit dem? Das hat sogar einen Pool.“
Hübsch. Wenn ich mal groß bin, werde ich so ein Haus haben.

Dieser Protagonist, wiewohl gelähmt, sabbernd, nur wenige Worte sprechend, ist keiner, dem man Überlegenheitsgefühl und Mitleid entgegen bringt, sondern Respekt und Interesse. Für Dario gibt es ohnedies überhaupt keinen Grund, Andy zu bemitleiden. Vielmehr beneidet er ihn fast – weil dieser in seinem eigenen Universum lebt, nicht den Gesetzen der anderen unterworfen ist. In der Beziehung zwischen ihnen gibt es kein Machtgefälle, beide lernen voneinander. Dario bringt Andy bei, seinen Arm zu bewegen und Andy steckt seinen Freund mit Lebensfreude und der Lust am Augenblick an, zeigt ihm, nicht nur das Negative wahrzunehmen. „Il sole fra le dita“ - „Die Sonne zwischen den Fingern“ lautet auch der Titel im italienischen Original. Und als Dario ganz am Ende – da sind sie schon wieder wohlbehalten zuhause angekommen – darüber nachdenkt, was er tun soll, meint Andy: Hm, mach es einfach. Ich helf dir schon dabei.

Clima stellt die emotionale Welt der beiden Jungen glaubwürdig und berührend dar, sensibel und ausgewogen im Wechsel zwischen heiter und ernst. Da hat einer ein ganz besonderes Gespür nicht nur fürs Schreiben, sondern auch für das Innenleben von Jugendlichen, die sich aus welchen Gründen immer außerhalb der Reihe bewegen.

Karin Haller