Ingrid Law: Der Schimmer des Ledger Kale

Sie können Berge versetzen, Radioaufnahmen in Einmachgläsern konservieren oder in der Zeit reisen: „Schimmer“-Familien, deren Mitglieder jeweils an ihrem dreizehnten Geburtstag ihr individuelles außergewöhnliches Talent entwickeln.

Aus dem Englischen von Birgit Schmitz
Hamburg: Carlsen 2011


Sie können Berge versetzen, Radioaufnahmen in Einmachgläsern konservieren oder in der Zeit reisen: „Schimmer“-Familien, deren Mitglieder jeweils an ihrem dreizehnten Geburtstag ihr individuelles außergewöhnliches Talent entwickeln. Mit welchem man bedacht wird, kann man sich nicht aussuchen – obwohl der Protagonist in Ingrid Laws neuem Jugendroman „Der Schimmer des Ledger Kale“ sich das sehr wünschen würde. Denn er ist „der König der Zerstörung“, zerlegt alles, was aus Metall ist, in Sekunden in seine Bestandteile. Da zerfällt eine Harley Davidson in ein Chaos aus Chrom und Stahl, wenn er nur daran vorbei läuft, und die Scheune, in der sich die ganze Großfamilie zur Hochzeitsfeier auf Onkel Autrys Ranch versammelt hat, stürzt ein. Zu allem Überfluss muss sich Ledge auch noch mit Sarah Jane herumschlagen, die sich an seine Fersen geheftet hat und drauf und dran ist, das Familiengeheimnis zu entdecken. Dabei ist auch sie selbst etwas Besonderes, ohne es zu wissen …

Doch das enthüllt sich dem Jungen erst nach und nach. So wie er lernt, Stück für Stück besser mit seinem Schimmer umzugehen und begreift, dass die Destruktion nur die eine Seite der Medaille ist. Denn er kann Dinge nicht nur zerlegen, sondern sie auch genauso selbstverständlich reparieren oder aus den Einzelteilen wahre Kunstwerke schaffen. Eine Fähigkeit, mit der er am Ende in einem Showdown mit Baggern die vom Abriss bedrohte Ranch rettet.

Trotzdem ist Ledger alles andere als ein Held. Vor Schwierigkeiten läuft er davon, und zwar nicht nur im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinn. Und er läuft viel in diesem Buch. Doch irgendwann begreift er, dass der Schlüssel, seinen Schimmer in den Griff zu kriegen, darin liegt, nicht immer nur zu reagieren, sondern zu agieren: „Egal, ob ich es richtig machte oder falsch. Ich musste handeln.“

Das Überwinden der eigenen Ängste stellt explizit eines der zentralen Motive in diesem Buch dar: die Angst davor, Entscheidungen treffen zu müssen, vor den Konsequenzen, die Angst, nicht zu genügen, den Vater zu enttäuschen. Im Mittelpunkt des klassischen Coming of Age - Romans steht die Entwicklung der Hauptfigur: Die anfängliche Ablehnung eines unwillkommenen und als durchwegs negativ empfundenen Talents, die langsame Akzeptanz der individuellen Besonderheit, und schließlich das harmonische Hineinwachsen in das eigene Ich.

Dass diese Entwicklung möglich ist, liegt nicht zuletzt an dem familiären Netz, in dem sich Ledge aufgehoben weiß. So wie auch sein elektrisch geladener Cousin Rocket mehr und mehr die eigenen Grenzen überwindet oder der meist unsichtbare Samson sich am Ende doch für die angreifbarere Sichtbarkeit entscheidet.

Cover
Die Ranch in Wyoming, auf der sich mit Onkel, Opa, Schwester, Cousins und Cousinen eine ganze Reihe von bemerkenswerten Schimmer-Begabungen tummelt, bietet den Jungen den Schutz, ihre eigene Identität anzunehmen. Eine zentrale Figur dabei ist Ledgers auf magische Weise mit Insekten in Kontakt stehender Onkel Autry, der sich durch unerschütterliche Gutmütigkeit und Verständnis auszeichnet. Auch wenn er schon mal zur Überwachung seines Neffen ein Geschwader kobaltblauer Libellen losschickt „wie eine Kunstflugstaffel der Blue Angels“.

Bei „Der Schimmer des Ledger Kale“ handelt es sich um die Fortsetzung des 2009 erschienenen Erstlings der Autorin, „Schimmer“, in dem ein Mädchen, Mibs, auf der Suche nach ihrer Bestimmung war. Nun widmet sich Ingrid Law also der Perspektive eines Jungen. Flüssig lesbar, mit gelungenem Spannungsaufbau, liebenswerten und überzeugenden Charakteren und fallweise humoristischen Einsprengseln. Das eine Buch so lesenswert wie das andere, auch getrennt voneinander.

Und übrigens – wenn man sich wünscht, so etwas gäbe es wirklich, diese speziellen verrückten Talente: angesichts der Begabung von Ledgers Mutter ist man dann doch ganz froh, dass das alles nur Fiktion ist. Die kann nämlich jedem ihren Willen aufzwingen – nur mit ihrem Lächeln … Was ja dann doch wieder ein gespenstischer Gedanke ist.

Karin Haller