Anne-Laure Bondoux: Der Mörder weinte

„Er war wie die Tiere dieser Gegend, ständig durstig, instinktiv und gierig“. Paolo Poloverdo wächst im äußersten Süden Chiles auf, abgeschnitten von jeglicher Zivilisation.

Aus dem Französischen von Maja von Vogel
Hamburg: Carlsen 2014


„Er war wie die Tiere dieser Gegend, ständig durstig, instinktiv und gierig“. Paolo Poloverdo wächst im äußersten Süden Chiles auf, abgeschnitten von jeglicher Zivilisation. Ein wildes Kind, das weder Gesetze noch Gebote der Moral kennengelernt hat, sowenig wie ihm seine Eltern lesen oder schreiben beibrachten. Einsamkeit und Härte bestimmen das Leben „in dieser kargen Landschaft zwischen Steinen und Gewalt“.
Und dann, an einem heißen Januartag, tritt plötzlich Angel Alegría in sein Leben. Ein gesuchter Mörder, der – weil er ein Versteck braucht – dem Ehepaar Poloverdo kurzerhand die Kehle durchschneidet. Als Paolo nach Hause kommt, schont Angel das Leben des Jungen – er bringt es nicht über sich, ein Kind zu töten. Stattdessen befiehlt er Paolo, ihm Suppe zu kochen, und als dieser nicht neben den Leichen seiner Eltern essen kann, begraben sie sie vor dem Haus.

Der Beginn von Anne-Laure Bondoux´ neuem Roman „der Mörder weinte“ schlägt mit großer Wucht zu. Gewalt und Härte markieren den Ausgangspunkt, von dem aus die beiden zentralen Figuren sich grundlegend verändern. Angel und Paolo, allein in diesem Haus am Ende der Welt, entwickeln eine tiefe Bindung zueinander, die immer mehr von Vertrauen und Zuneigung geprägt ist. Dabei erleben sie Emotionen, die sie bisher nicht kannten. Für beide wird es später heißen, dass der Tag, an dem Angel in das Haus kam, der Tag ihrer Geburt war. Für Angel wird der Junge zum Sohn, mit Paolo erlebt er ein seltsames Glück, das seinem gedankenlos gewalttätigen Leben Sinn gibt. Und für das Kind wird der Mörder zur Bezugsperson, die ihm Verlässlichkeit, Stärke und Geborgenheit vermittelt, auch wenn Einsamkeit und Trauer immer wieder durchbrechen. Paolo wird sich erst spät darüber klar werden, dass es nicht „normal“ ist, den Mörder seiner Eltern zu lieben.

Die Geschichte erfährt ihren ersten Wendepunkt, als Luis Secunda bei ihnen einzieht und ein Tauziehen der beiden Männer um die Zuneigung des Kindes beginnt. Wobei für Angel Paolos Liebe von existentieller Wichtigkeit ist, Luis jedoch bei erster passender Gelegenheit den Jungen hinter sich lässt: Als sich die drei zum weit entfernten Viehmarkt nach Punta Arenas aufmachen, veranlasst Luis dort eine Großfahndung nach Angel und bestimmt damit den Ausgang der Ereignisse. Angel wird gefasst und hingerichtet, Paolo kehrt nach Jahren, an seinem achtzehnten Geburtstag, in sein verlassenes Elternhaus zurück.
„der Mörder weinte“ ist ein außergewöhnliches Buch. Seine Spannung ergibt sich nicht nur aus der ungewöhnlichen Handlung, sondern wesentlich aus der Art, wie Bondoux erzählt.

Cover
Sie analysiert und erklärt nicht, sie beschreibt. Das hört sich dann etwa in der Anfangsszene so an: „Die Suppe roch gut. Doch Paolo musste immer wieder zu den leblosen Körpern hinübersehen, die auf dem Boden lagen. Er nahm die Schale in beide Hände, schaffte es aber nicht, sie zum Mund zu führen. Der Mörder drehte sich um und betrachtete ebenfalls die beiden Leichen. “Verderben sie dir den Appetit?“ Paolo nickte.“
Die Trostlosigkeit ihres bisherigen Lebens hat harte, auf das nackte Überleben ausgerichtete Menschen aus ihnen gemacht, darin ähneln Angel und Paolo einander, ebenso darin, dass sie trotz aller Abgestumpftheit voller Bereitschaft sind, zu lieben und zu vertrauen. Nicht nur das Kind, sondern gerade auch Angel, der rastlose, zornige Gejagte, der brutale Mörder, der im Gegensatz zu seinen unmenschlichen Taten alles andere als gefühllos ist. Nicht umsonst wurde als Titel „der Mörder weinte“, auch im Original „Les larmes de l´assasin“ gewählt, nicht umsonst wird im Abspann die nicht weiter kommentierte Information gegeben, dass die letzten Hinrichtungen in Chile 1985 stattfanden und die Todesstrafe 2001 abgeschafft wurde. Das Buch lässt keinen Zweifel an seiner Position.

Um zu erreichen, dass Angels Hinrichtung vom Lesenden als unmenschlicher Akt empfunden wird, tut die Autorin alles, um ihrer Figur menschliche Züge zu verleihen. Und sie tut das mit so überzeugender Intensität, dass man – wenn man sich auf diese Gratwanderung einlässt – Angels Gefühle, seine Liebe zu Paolo und seine Verzweiflung über die Ausweglosigkeit seines Lebens nachvollziehen kann. So wie auch die im Grunde unbegreifliche Liebe Paolos zum Mörder seiner Eltern begreiflich wird.

2011 erschien der Text, acht Jahre nach seiner Erstveröffentlichung im Original 2003, auch als Graphic Novel, in der zeichnerischen Umsetzung von Thierry Murat. Im Buch, ganz ohne Illustrationen, erschafft Anne-Laure Bondoux andere, aber nicht weniger Bilder. Diese Sprache erzählt nicht nur von Gefühlen – sie kann auch welche erzeugen.

Karin Haller