Zoran Drvenkar: Der letzte Engel

Wenn man aufwacht, kann man sich nie sicher sein, dass man noch der ist, als der man schlafen ging. In Zoran Drvenkars neuem Roman „Der letzte Engel“ bekommt der sechzehnjährige Motte eines Abends ein kryptisches Mail: „Sorry für die schlechte Nachricht, aber wenn du aufwachst, wirst du tot sein.“

München: cbj 2012


Wenn man aufwacht, kann man sich nie sicher sein, dass man noch der ist, als der man schlafen ging. In Zoran Drvenkars neuem Roman „Der letzte Engel“ bekommt der sechzehnjährige Motte eines Abends ein kryptisches Mail: „Sorry für die schlechte Nachricht, aber wenn du aufwachst, wirst du tot sein.“ Begreiflicherweise hält er das für einen schlechten Scherz, doch als er am nächsten Morgen aufsteht, ist er wirklich tot – und riesige weißgraue Flügel, die von den Ohren bis zum Boden reichen, wachsen aus seinen Schultern. Ein weiteres Mail erklärt warum: „P.S. Du bist jetzt der letzte Engel auf Erden.“

Diese Szene ist der Ausgangspunkt für eines der spannendsten Bücher der aktuellen Produktion – weshalb von der Handlung nicht viel erzählt werden darf. Entsteht die Spannung des über vierhundert Seiten schweren Thrillers doch dadurch, dass man langsam, Stück für Stück die Zusammenhänge entdeckt, die Hintergründe der Figuren begreift.

Viele Zeitsprünge, Perspektiven- und Schauplatzwechsel werden nach und nach miteinander verbunden. Wir reisen nach St. Petersburg ins 19. Jahrhundert, ins Deutschland der Brüder Grimm, die auch persönlich auftreten, nach Island, England und Berlin; zusätzlich gibt es noch Flashbacks der zehnjährigen Mona, einer der Hauptfiguren, die die besondere Gabe besitzt, in anderen Menschen Erinnerungen auszulösen und diese live mitzuerleben. Der Text ist wohl das, was man „komplex“ nennt. Aber er ist nicht kompliziert.

Denn eigentlich ist alles ganz einfach: „Gut“ gegen“ Böse“. Es gibt die bis ins Jahr 1820 zurückreichende Bruderschaft, die die Engel ausrotten will und daher auch Motte jagt. Und es gibt die sogenannte „Familie“, die noch älter ist und die Engel auf die Erde zurückholen will, getrieben von der Sehnsucht, selbst wie die Engel zu sein: pur und rein und mächtig. Natürlich ist diese „Gut-Böse“-Opposition nur scheinbar so klar und eindeutig, sind die Mitglieder der Familie alles andere als nette Menschen und ihre Motivationen und Handlungen moralisch-ethisch nicht gerade sauber.

Das Buch ist immer wieder überraschend: Einerseits inhaltlich – der Autor weiß einfach, wie man einen gelungenen Plot baut. Andererseits aber durch Witz, wo man ihn nicht erwartet. Es ist vor allem Motte und seinem Freund Lars, dem „Begleiter“, vorbehalten, für komische Szenen zu sorgen, wodurch der ganzen Engel-Thematik jeder esoterische Touch genommen wird.

Darum bemüht sich Drvenkar sichtlich, wenn er etwa Motte, seinen letzten Engel, in Unterhosen mit Garfield-Motiv steckt. Oder ihn mit seiner neuen Geschlechtslosigkeit hadern lässt: „Er ist weg“, sagte ich. Lars schaute sich um. „Wer? Wer ist weg?“ „Mein Schwanz, du Blödmann, da ist nichts mehr.“

Cover
Engel als Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, aber weit und breit keine Kirche. Dafür einige Actionszenen, in denen mit sehr irdischen Schuss- und Stichwaffen agiert wird und Söldner unschuldige Kinder niedermetzeln, da ist der Autor nicht zimperlich, mit Leichen wird nicht gespart. Ein bisschen Mythos gibt es auch – ist die Basis der Geschichte doch der finale Kampf des Menschengeschlechtes gegen das Geschlecht der Engel, der vor sehr, sehr langer Zeit stattgefunden hat.

Engel sind hier keine ätherischen Wesen, die das Gute verkörpern – sie sind Kämpfer, die bluten und sterben können. Nur ein bisschen schwerer als unsereins. Wobei, nur als Tipp: Wenn Ihnen irgendwo ein Engelflügel unterkommt – machen Sie einen großen Bogen. Ihn zu berühren, verlängert zwar das Leben, macht aber leider auch schwer süchtig, was zu problematischen Persönlichkeitsveränderungen führen kann. Wie uns zwei durchgeknallte russische Gräfinnen demonstrieren.

„Der letzte Engel“ ist der erste Teil einer geplanten Trilogie, weshalb das Buch auch mit einem wunderbaren Cliffhanger endet. Bis man erfährt, wie es mit Motte, Lars und Mona weitergeht, heißt es leider noch ziemlich oft schlafen gehen. Und hoffen, dass man weder tot noch ein Käfer ist, wenn man aufwacht.

Karin Haller