Tobias Wagner: Death in Brachstedt

Weinheim: Beltz & Gelberg 2025, 208 S., ab 14

"Mein Vater war gegangen, und ich hatte keine Ahnung, wohin, und vor allem, wann er wiederkommen würde.“ Der das sagt, heißt Leo, ist fünfzehn und eher das Gegenteil von einem Draufgänger. Gut, dass er mit Henri Sajevic, dem „selbstbewussten Sitzenbleiber, Antreiber und Möchtegernfilmemacher" einen Buddy an seiner Seite hat, der eine Gelegenheit nicht nur erkennt, sondern auch dafür sorgt, dass sie ergriffen wird. Eine Woche Osterferien und sturmfreie Bude, da muss man jedenfalls feiern. Auf Leos Einwand, dass nach den Ferien eine Mathe-Klausur geschrieben werde, ruft Henri fröhlich: „Wir müssen über die Schulzeit hinausdenken (…) Wir brauchen Visionen!“ Henris Vision: Eine fulminante Party mit Filmpremiere – zur Sicherheit kündigt er sie bei Freund:innen und Klassenkolleg:innen schon mal für den Freitag an, auch wenn es noch keinen Film gibt. Weil bis dahin nur noch drei Tage bleiben, wird es ein Kurzfilm werden. Tobias Wagner setzt mit der Grundkonstellation zweier ungleicher Freunde und der Abwesenheit von Erziehungsberechtigten auf ein bewährtes Muster – in einem seiner berühmten Tagebucheinträge hat Wolfgang Herrndorf, auf dessen „Tschick“ im vorliegenden Buch an einer Stelle explizit verwiesen wird, die „rasche Eliminierung der elterlichen Bezugspersonen“ eine der Voraussetzungen für ein interessantes Jugendbuch genannt. Auch die Sache mit einer Party, die potentiell eine Verwüstung der Wohnung nach sich zieht, ist nichts Neues. Das ist aber egal, weil der deutsche Autor in diesem bekannten Rahmen die Geschichte seiner zwei Protagonisten mit Lust und so unkonventionell erzählt, dass man immer wieder überrascht wird. Tobias Wagner schickt Leo und Henri in ein abgehalftertes Provinzhotel in einem Kaff, wo die beiden den No-Budget Film „Death in Brachstedt“ inszenieren, ein räudiges Stück mit zwei Gangstern, von denen einer ebenso dran glauben muss wie der Rezeptionist. Dabei ist es Henri, der nicht nur Regie, sondern auch die große Klappe führt: Quentin Tarantino ist sein Lieblingsregisseur und Ryan Gosling hält er für den besten Schauspieler ever, er weiß, wer warum die Steadycam erfunden und dass Jürgen Vogel keine Schauspielausbildung hat. Daher ist es natürlich kein Problem, dass Leo den Hauptdarsteller mimt. Obwohl der von Film nicht viel versteht. Immerhin: Nora Tschirner kennt er so gut, dass er – im Geist – mit ihr telefoniert, wenn er in gröberen Schwierigkeiten steckt. Dass seine Mitschülerin Maja genau so aussieht wie die deutsche Schauspielerin, nur noch besser, ist für Leo der wichtigste Grund, anstrengenden Filmdreh und Party mitzumachen.

 

wagner death

 

Nur auf den ersten Blick ist es irritierend, dass Tobias Wagner in seine Erzählung absurde Details, eine versandende Nebenhandlung und andere lose Enden einbaut. Zum einen weil vor allem jener Sidestep, der den Protagonisten mit einem Schließfachschlüssel an den Bahnhof führt, zwar unerklärt und unerklärlich bleibt, aber sehr komisch ist. Zum anderen weil in diesem Buch ja auch die Geschichte eines demenzkranken Menschen erzählt wird. Das Verschwinden des Vaters, der als Scherzkeks eingeführt wird, ist nämlich alles andere als lustig, auch wenn das erst nach und nach klar wird. Zwar merkt Leo schon zu Beginn an, dass sein Vater in letzter Zeit hie und da etwas merkwürdig gewesen sei – etwa in der ganzen Wohnung angebissene Bananen hat liegen lassen – , rückt aber erst nach und nach damit raus, dass er an Demenz erkrankt ist. Die Geschichte des väterlichen Verschwindens am Anfang der Woche und seiner zwischenzeitlichen Rückkehr läuft parallel zum Filmdreh im Hintergrund ab. Unmittelbar nach der fulminanten Party – ja die Verheerung der Wohnung ist erheblich – sorgt der endgültige väterliche Abgang schmerzhaft für den dramaturgischen Höhepunkt. Im Mittelpunkt der Geschichte, mit der Tobias Wagner den Peter-Härtling-Preis 2025 gewonnen hat, der alle zwei Jahre für ein unveröffentlichtes Manuskript vergeben wird, stehen natürlich jene drei universellen Themen, von denen Henri meint, dass sie „immer gehen in Liedern, Filmen, Büchern“: Familie, Liebe und Tod. Wobei die Liebe – wie es sich für ein Jugendbuch gehört – auf mehreren Ebenen relevant ist: Als klassisches Love Interest ist sie hier nur ein Randmotiv. In Gestalt der Freundschaft ist sie zentral. Und als Leidenschaft für den Film treibt sie in „Death in Brachstedt“ die Handlung an. Das wird jedenfalls alle freuen, die bei Matrix nicht zuerst an eine tabellarische Anordnung von Daten denken und vielleicht den einen oder anderen Film mit Sigourney Weaver gesehen haben. Die anderen werden mit den witzigen kleinen Szenen und dem insgesamt schräg-rohen Erzählton auf ihre Kosten kommen. Und sich gut unterhalten, auch wenn sie auf die Frage „Ryan Reynolds oder Ryan Gosling?“ keine richtige Antwort wissen.

Franz Lettner