Jürgen Seidel: Das Paradies der Täter

Der Sohn eines Nazis und ein jüdisches Mädchen, Seite an Seite in einer Klasse? Was unvorstellbar scheint, ist möglich – im Argentinien des Jahres 1952, im Colegio Friedrich, einer Privatschule, die teils vom Staat, teils von den Deutschen finanziert wird.

München: cbj 2012


Wut, Scham und Liebe – das sind die emotionalen Kräfte, die Tom Blume antreiben, den 17jährigen Ich-Erzähler in Jürgen Seidels neuem Roman „Das Paradies der Täter.“ Es ist die Wut über die Last einer schuldhaften Vergangenheit, die ihm sein Vater – ein Nazi, der in der SS als Adjudant diente - aufgebürdet hat. Es ist die Scham stellvertretend für den Vater, der keinen Zentimeter von seiner Ideologie abweicht und keine Scham kennt. Und es ist die Liebe zu Walli, seiner jüdischen Mitschülerin.

Der Sohn eines Nazis und ein jüdisches Mädchen, Seite an Seite in einer Klasse? Was unvorstellbar scheint, ist möglich – im Argentinien des Jahres 1952, im Colegio Friedrich, einer Privatschule, die teils vom Staat, teils von den Deutschen finanziert wird. Die Konflikte sind unausweichlich. Die Kinder der untergetauchten Nazis, die „Weißen“, und die „Kippot“, die Kinder jüdischer Emigrantenfamilien, stehen einander verfeindet gegenüber. Schon an seinem ersten Schultag gerät Tom, der mit seiner Familie über Uruguay nach La Plata geflohen ist, zwischen die Fronten – und findet sich, die Schwächeren verteidigend, auf der Seite der „Kippot“ wieder. Im Bestreben, Walli für sich zu gewinnen und in Opposition zu seinem Vater macht er allen in der Schule vor, jüdisch zu sein, und bald weiß Tom, „der Lügenbaron, der von Mördern abstammt“ nicht mehr, welche Scham größer ist: die über seine Herkunft oder die über das Verstecken seiner Herkunft. Doch irgendwann wird die Last seiner Camouflage zu erdrückend.

Als Tom Walli seine wahre Identität gesteht, begibt er sich in das Niemandsland zwischen den beiden Polen, wird zum Außenseiter, der erst wieder um die Akzeptanz seiner jüdischen Freunde kämpfen muss. Und das tut er ohne Wenn und Aber, erst recht, als Walli entführt wird. Denn als eine Mappe mit geheimen Informationen verschwindet, bleibt es nicht bei verbalen Aggressionen, Einschüchterungsmanövern und Schlägereien im Colegio Friedrich – die erwachsenen Nazis kämpfen einen anderen Kampf. Ein Junge wird ermordet, Walli als Geisel festgehalten, um die Informationen freizupressen.

Der Autor verbindet mit großer Selbstverständlichkeit unterschiedliche Genres: Das Buch ist Coming-of-Age Story eines Jugendlichen, der mit seinen Wurzeln bricht und gegen den Vater rebelliert, ist zeitgeschichtlicher Roman um die damalige Rolle Argentiniens, in dem das Perón-Regime die geflohenen Nazis schützte und ihnen ein höchst komfortables Leben unter neuem Namen ermöglichte: „Man hatte die Anklagebank in Nürnberg gegen einen Bungalow in Pilar eingetauscht.“

Auch im Colegio Friedrich wird antisemitische Aggression nicht sanktioniert. Selbst wenn eine Schülerin einem Lehrer droht, ihm seine jüdische Nase zu arisieren, bleibt das folgenlos.

Nicht zuletzt ist das Buch ein veritabler Thriller, in dem durchaus scharf geschossen wird. Auch von Tom, der sich gegen seinen Vater – einen abgrundtief widerlich gezeichneten Charakter, feig, gewalttätig und beschränkt – mit dessen Luger 08 zur Wehr setzt und ihn zum Invaliden schießt. Dass der alte Nazi am Ende im Krankenhaus in einer eisernen Lunge elend zugrunde geht, ist für seinen Sohn wie für seine Frau eine einzige Genugtuung. Sosehr der junge Mann unsicher zaudert, wenn es um Walli geht, so schnell und kompromisslos reagiert er, wenn es darum geht, Ungerechtigkeit auszugleichen. In der Liebe ist Tom unerfahren, in der Konfrontation mit Gewalt nicht.

Cover
„Das Paradies der Täter“ ist nach „Blumen für den Führer“ und „Die Unschuldigen“ Jürgen Seidels letzter Band einer offenen Trilogie über Jugend unter dem Hakenkreuz. In diesem Band stellt er nicht die Täter in den Mittelpunkt, sondern deren Kinder, verhandelt die Frage, wie mit der Schuld der Väter umzugehen ist. Die Antwort des Textes ist eindeutig: Vergessen oder verdrängen kann keinesfalls der Weg sein, der zu einem neuen Miteinander führt, von leugnen ist sowieso keine Rede. Wenn Toms Mutter, die sich im Laufe der Geschichte gleichfalls gegen ihren Mann stellt, sogar zum jüdischen Glauben konvertieren will, ist das für Tom ebenso problematisch wie das Schweigen, das sein Vater prügelnd verteidigt: „ Mein Vater verschwand mitsamt seiner Schuld in einem Stahlgehäuse, meine Mutter versuchte, sich das Kostüm der Opfer überzustreifen, damit sie niemand erkennt.“ Ist auf der einen Seite das Überwinden von Rache und Hass vonnöten, braucht es auf der anderen das klare und unmissverständliche Eingeständnis der historischen Schuld.

Die letzten Zeilen des retrospektiv erzählten Romans lassen den Leser wissen, dass Tom und Walli, die ihm seine Lügen wie seine Herkunft verzeiht, ihr ganzes Leben miteinander verbringen werden. Hier ist es doch die Liebe, die stärker ist als Wut oder Scham.

Karin Haller