Neil Smith: Das Leben nach Boo

Eben noch steht Oliver vor seinem Schulspind, und plötzlich ist er in einem Krankenhaus, neben ihm ein Mädchen mit Rastazöpfchen, das ihn als seine Tutorin im Himmel für dreizehnjährige Amerikaner begrüßt.

Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek
Frankfurt am Main: Schöffling 2017


Eben noch steht Oliver vor seinem Schulspind, und plötzlich ist er in einem Krankenhaus, neben ihm ein Mädchen mit Rastazöpfchen, das ihn als seine Tutorin im Himmel für dreizehnjährige Amerikaner begrüßt. Da er alles ganz klar sieht, und das ohne Brille, weiß er sofort, dass er gestorben ist. Doch wie genau, daran erinnert er sich nicht, die letzten Momente seines Lebens sind ein blinder Fleck. Was ihn nicht besonders stört – er nähert sich seinem neuen Aufenthaltsort mit wissenschaftlichem Interesse. So, wie er es immer getan hat.

Denn schon zu Lebzeiten war Oliver anders als die anderen, nicht nur äußerlich mit seiner blassen Haut und den weißblonden Haaren, die ihm den Spitznamen „Boo“ eingebracht haben. Soziale Interaktion gehört nicht zu seinen Stärken, er sagt immer, was er sich denkt, hasst Berührungen und ist am liebsten allein. Der Hochbegabte interessiert sich ausnahmslos für Naturwissenschaften – in seinen letzten Minuten sagt er alle 106 Elemente nach ihren Ordnungszahlen auf. Ein Außenseiter wie aus dem Lehrbuch. Doch hier im Jenseits findet er Freunde. Thelma und Ester, die ihm als „Helferinnen“ zur Seite stehen, und vor allem Johnny, sein ehemaliger Mitschüler, mit dem ihn bald eine tiefe, auf empathischem Verständnis basierende Freundschaft verbindet. Der bei Olivers Tod neben ihm war, der ihm sagt, dass sie beide erschossen wurden. Von wem? Auch Johnny kennt den Täter nicht. Wer war der mysteriöse „Gunboy“, der sie und auch sich selbst getötet hat? Ist er vielleicht sogar hier? Johnny ist davon überzeugt, und Oliver begleitet ihn auf seiner Jagd. Werden sie ihn finden – und was geschieht dann?

Cover
Eben dieses Rätsel enthüllt der kanadische Autor Neil Smith in seinem ersten Jugendroman „Das Leben nach Boo“ auf mehr als 400 spannenden Seiten. Schlägt immer wieder Volten in der Handlung, die sich am Ende nochmals in einem Überraschungseffekt dreht. Den Inhalt zu verraten, wäre unverzeihliches Spoilern. Doch nicht nur die fintenreiche Wendigkeit des Plots macht das Buch zu einem Leseerlebnis. Es ist die ausgewogene Verbindung von Humor und Ernst, mit der der Ich-Erzähler spricht oder vielmehr schreibt – schließlich ist der Text der fiktive Brief Olivers an seine Eltern. Es ist die detailreiche Akribie, mit der Smith seinen Schauplatz imaginiert. Ein Himmel nur für 13jährige Amerikaner und Amerikanerinnen, ansonsten gibt es keine Trennung, nicht nach Religionen, Hautfarbe oder anderen Charakteristika. Erwachsene gibt es hier nicht - die verstorbenen Jugendlichen altern nur innerlich, bis sie nach fünfzig Jahren wieder verschwinden, wohin, weiß keiner. Sie müssen ihr Zusammenleben allein regeln – nicht zufällig findet sich, unter einer Menge anderer populärkultureller Verweise, auch „Der Herr der Fliegen“. Mit einem Paradies hat dieser Himmel wenig zu tun, das Jenseits für Boo sieht aus wie eine riesige Sozialsiedlung mit Backsteinbauten. Strom, aber kein Fernsehen und kein Radio. Häufig verstopfte Toilettenspülungen. Keine Süßigkeiten, kein Fleisch. Überhaupt keine Tiere, nur ganz selten taucht bei den Anlieferungen eines auf, offensichtlich aus Versehen durchgerutscht. Bei so manchen Gelegenheiten vermutet Oliver, dass Gott, den alle nur „Zig“ nennen, sich nicht gerade durch Logik oder Konsequenz auszeichnet. Wieso gibt es Seife, aber kein Deo?

Doch natürlich geht es um Größeres, schließlich erzählt ein Jugendlicher aus dem Jenseits, der Opfer einer Gewalttat wurde, und das wird sehr ernst genommen. Indem das Geheimnis langsam enthüllt wird, liest sich das Buch wie ein Krimi. Aber auch wie ein Entwicklungsroman. Oliver meint von sich selbst, im Himmel etwas weniger intelligent, dafür umgänglicher zu sein. „Aufgrund dieser Charakterveränderung kann ich anderen nun Gefühle entgegenbringen, womit ich zu Hause in Amerika zugegebenermaßen Probleme hatte. Ich kann Freundschaft und Mitgefühl empfinden.“

Freundschaft und Mitgefühl. Die beiden großen Themen des Buches. Es sind keine klein dimensionierten Gedanken, mit denen es sich beschäftigt. Kann man seinem Mörder vergeben? Verständnis für eine derartige Tat empfinden? Haben die Opfer ein Recht auf Rache? Wer entscheidet, was richtig ist und was falsch? Welche Abgründe verbergen sich in uns selbst? Steckt nicht in jedem von uns ein Stück „Gunboy“, wie Oliver sagt? „Das Leben nach Boo“ stellt Fragen, ohne eindeutige Antworten zu geben.

Karin Haller