Jonas Hassen Khemiri: Das Kamel ohne Höcker

Der 15-jährige Ich-Erzähler in Jonas Hassen Khemiris Debütroman ist ein in Stockholm aufwachsender Sohn tunesischer Einwanderer, der sich mit verbissenem Trotz jeglicher Integration in die schwedische Gesellschaft verweigert.

München: Piper 2006


„Es ist komisch. Eigentlich war ich nicht wild aufs Schreiben. Dann habe ich angefangen und konnte nicht aufhören. Vielleicht denkst du, der du den Text liest, einfach nur, dass der da voll verwirrt ist. Was soll ich sagen? Ich schreibe ehrlich, und wenn du lieber Falschheit lesen willst, dann kannst du einen anderen Text von einem idiotischen Schwedenphilisophen lesen. Außerdem, ich schwör, ich scheiß auf dich (und deine ganze Sippe).“

Halim ist davon überzeugt, dass zukünftige Forscher beim Lesen seines Tagebuches die Meinung vertreten werden, sein Genie habe sich schon früh abgezeichnet, lange bevor er der reichste Anwalt Schwedens wurde und ein eigenes arabisches Kulturzentrum direkt vor dem Königsschloss baute. Schließlich ist er nicht irgendein Idiot, sondern der „Revolutions-kanake“, der „Gedankensultan“, der sich nicht leimen lässt und alle Lügen und Verschwörungen durchschaut. Vor allem, dass sie ihn „schwedisieren“ wollen – und das wird er ganz bestimmt nicht zulassen.

Der 15-jährige Ich-Erzähler in Jonas Hassen Khemiris Debutroman „Das Kamel ohne Höcker“ ist ein in Stockholm aufwachsender Sohn tunesischer Einwanderer, der sich mit verbissenem Trotz jeglicher Integration in die schwedische Gesellschaft verweigert und mit stereotypem Schwarz-Weiß-Denken seinen arabischen Ursprung romantisiert. Sein Versuch, sich gegen die Anpassung zu wehren, läuft vor allem über die Sprache. Obwohl Halim perfekt Schwedisch kann und in seinen Überlegungen auch über ein sehr hohes Sprachniveau verfügt, verwendet er vorzugsweise Slangausdrücke, verkürze Sätze, Fäkalwörter. Auf die Abschaffung des muttersprachlich-arabischen Unterrichts in seiner Schule reagiert er mit Kloschmierereien, in der Schülervertretung setzt er sich für einen Speiseplan ein, der „halal“ ist, dem Islam getreu. Doch eigentlich spielt sich die Rebellion nur in seinem Kopf ab.

Seine naive Radikalität steht in krassem Gegensatz zum liberalen Vater, der sich nach dem Tod seiner Frau immer mehr von den muslimischem Traditionen entfernt hat. Der sich mit einem Trödelladen durchs Leben schlägt und eigentlich ein Intellektueller ist, der in der alten Heimat studiert hat, viel liest und am liebsten Schach spielt.

In dieser von viel Liebe und Stolz geprägten Vater-Sohn-Beziehung werden zwei aufeinanderprallende Werthaltungen deutlich, aber natürlich auch der klassische Generationenkonflikt zwischen jugendlich-pubertärer Sturheit und erwachsener Abgeklärtheit.

Denn sosehr Halim versucht, sich in seinem Tagebuch seine arabische Identität zu erschreiben, genauso sehr ist er ein ganz durchschnittlicher Teenager, der sich in der Schule und in Auseinandersetzungen mit Widersachern zu behaupten hat, der sich verliebt und miterleben muss, dass seine Angebetete Marit – mit der er bisher noch nicht einmal gesprochen hat – mit einem anderen herumknutscht. Seine Reaktion darauf ist – er schlägt den anderen zusammen, schließlich muss er Marits Ehre verteidigen. Und sogar als diese ihn als „verdammten Psycho“ beschimpft, ist für ihn sonnenklar, dass sie da einfach nur unter Schock steht.

Cover
Das wirklich Bemerkenswerte an diesem Roman ist die Ausschließlichkeit, mit der die Ich-Perspektive des schreibenden Halim durchgehalten wird, die sein Denken ohne jeglichen Außenkommentar 1:1 wiedergibt und damit entlarvt. Als Leser weiß man immer auch ein klein wenig mehr als der Ich-Erzähler, macht sich seine eigenen Gedanken zu dessen philosophischen Betrachtungen, zu den Schilderungen seines Alltags.

Durch die immer vorhandenen politischen Bezüge und Hintergründe braucht diese Lektüre ein relativ hohes Vorwissen, ohne das sich Halims Sichtweise nicht erschließen wird: Ein Grenzgänger – Roman, der sich einer eindeutigen Klassifizierung als jugendliterarischer und / oder allgemeinliterarischer Text entzieht. Ein völlig zurecht hymnisch gefeiertes Buch, dessen Reduktion auf „die wahre Migrantenstimme“ jedoch viel zu kurz greift. Jonas Hassen Khemiri, Jahrgang 1978, in Stockholm lebender Sohn einer Schwedin und eines tunesischen Vaters, hat keine Autobiographie geschrieben, sondern eine stilistisch und sprachlich perfekt durchkonziperte Geschichte. Sein fiktives Tagebuch ist mehr als nur ein weiterer Titel im Einwanderungsroman – Boom.

Die Innenschau dieses Jugendlichen, der nach Orientierungspunkten und seinem Platz in der Welt sucht, bezieht ihre Kraft und Faszination vor allem aus ihrer direkten, unverstellten, ungeschönten Sprache. Die Übertragung des Textes aus dem schwedischen Original, an dem in der Kritik die Verwendung neuer Wortkreationen und die offensichtlich unübersetzbare Veränderung üblicher Satzstellungen hervorgehoben wurde, dürfte eine Herausforderung gewesen sein, die gelungen angenommen wurde.

Sprache hat Macht, Worte sind wie eine Waffe. Wie lautet das Zitat, das für die deutsche Übersetzung als titelgebend gewählt wurde: „Ein Mann ohne Sprache ist wie ein Kamel ohne Höcker. Wertlos.“

Karin Haller