Susan Kreller: Das Herz von Kamp-Cornell

Hamburg: Carlsen 2025, 288 S., ab 14

Der Brief, der alles in Gang setzt, ist nicht abgestempelt, was Ed Melitzky, der ihn aus dem Kasten holt, nicht weiter auffällt. Seine Mutter wiederum lässt sich vom Inhalt des Briefes – ein Blatt Papier mit den zwei Worten: „Zu spät“ – nicht davon abhalten, zurück an den Ort ihrer Kindheit zu reisen. Mit ihrem Sohn. Der dann kurze Zeit später mit viel Verwandtschaft, von deren Existenz er bislang nicht die geringste Ahnung hatte, in Kamp-Cornell ankommt, einem Ort, den seine Mutter „das blanke Grauen“ nennt. Dabei sieht es dort jetzt im März geradezu paradiesisch aus, gänzlich überblüht ist das Dorf vom leuchtenden Gelb der Kornelkirsche, die hier überall wächst. „In dieser Gegend“, heißt es, „sprach man sie Kornell-Kirsche aus und nicht Koornel oder Korneel wie in gewissen anderen Breiten. In dieser Gegend sprach man sie so aus, wie ihre Früchte waren: säuerlich, etwas schroff und am Ende erstaunlich lieblich." – Auf die Lieblichkeit, so viel sei vorweg gesagt, wartet man in dieser Geschichte lange – und letztendlich vergeblich. Schroff und säuerlich, das blanke Grauen: da kommen sie also an, die vier Melitzky-Schwestern samt ihrer fünf Kinder, alle unter fünfzehn: Ed, den wir schon kennen. Die coole Lu, die glaubwürdig behauptet, vor Kamp-Cornell Mitglied einer Punkband gewesen zu sein, nennt ihn „einen, der sich lautlos kleidet“. Dann Johnny, der seine ständigen Sorgen nur in den Griff bekommt, indem er alles Weiße in seiner Umgebung 7 mal berührt. Und schließlich Gabriella und Penelope, die zwei Drillinge mit der zarten Finsternis im Auge. Mit den Müttern ziehen sie in deren Elternhaus in Kamp-Cornell, einen großen alten Kasten, heruntergekommen, aber immer noch eindrucksvoll. Es gibt eine Küche von der Größe eines kleinen Hotels, ein sogenanntes „ungenutztes“ Zimmer, das schon nicht betreten werden durfte, als die Schwestern noch klein waren, und weitere leere Räume. Im größten davon steht immerhin ein Bett. Darin liegt der Vater respektive Großvater, mehr tot als lebendig mit einem Blick „leer wie ein ausgepumpter Magen.“ Dass sie ein Geisterhaus bewohnen, merken Ed und die anderen schnell: Nacht für Nacht durchdringen unerklärliche Geräusche das Haus, „grauenhaft scheppernde, quietschende, schneidende, kratzende und hämmernde Töne.“ Dazu die Stromausfälle, die ebenso regelmäßig kommen wie alle möglichen Menschen aus dem Dorf: der Arzt, der Metzger, die Denkmalpflegerin, der Vorsteher – alle haben sie einen Schlüssel und gehen ein und aus; pflegen, wie sie behaupten, den alten Mann, der ja vor Jahren von seinen Töchter verlassen worden sei.

 

kreller herz

Was haben die Leute im Sinn? Sind sie dabei, den Alten langsam zu vergiften? Und was hat es mit den Geräuschen auf sich, mit den eigenartigen Zeichen, die in die Wände geritzt sind, und dem großen Garten, der unzugänglich und uneinsehbar ist, zugewachsen mit Kornelkirschsträuchern, stockwerkhoch? Irgendetwas Schreckliches geht hier vor, und zwar schon lange. Die vier Mütter scheinen – kaum angekommen – wie gelähmt, die jungen Leute suchen Erklärungen, kommen dabei aber nicht recht voran. Währenddessen vergehen Wochen und Monate … Susan Kreller siedelt ihren Roman „Das Herz von Kamp-Cornell“ zwischen Schauer und Thrill an und bevölkert ihn mit Figuren, die gut ins Universum des Filmemachers Wes Anderson passen würden. Mit ihren liebenswert-exzentrischen Eigenheiten und einer Mischung aus Hilflosigkeit, Unentschiedenheit und Humor stolpern sie durch die Geschichte. Begleitet von einer grauen Hühnergans und einem Klempner, der weint, sobald er das desolate Haus betritt. Das wiederum ein bisschen wie die kleine Schwester des Hotels aus Kubricks „Shining“ wirkt. Zusammengehalten und beseelt werden der unheimliche Schauplatz, die vielen eigenwilligen Figuren und der schwer durchschaubare Plot, der sich nur langsam von der Stelle bewegt, von der Erzählkunst der deutschen Autorin, die für ihr bisheriges Werk – Romane für Jugendliche und Erwachsene, Erzählungen für Kinder, auch Lyrik – zurecht gelobt und ausgezeichnet wurde. Die Stilistin mit dem Gespür für Tonalität und Rhythmus lotet die Abgründe in und unter ihren Figuren mit überraschender Leichtigkeit aus. Eine verspielte, hier und da fast manieriert wirkende Sprache, höchst originelle Bilder und ein Witz mit Schlagseite in Richtung des Absurden ziehen einen in den Bann. So sehr, dass man das Gefühl für die Zeit verliert. Die Kamp-Cornell-Zeit wie die eigene Lesezeit. Man fragt sich zwar schon immer wieder mal, warum Ed und die anderen den schrecklichen Ort nicht längst verlassen haben. Bleibt dann aber selbst auch mit ihnen dort. Solange bis sich überraschend doch noch offenbart, in welchen Tiefen des Hauses vergraben das Herz von Kamp-Cornell schlägt. Man kann es kaum fassen. Aber schon ist auch alles wieder vorbei. So unvermittelt die Melitzkys nach Kamp-Cornell gekommen sind, so schnell räumen die meisten von ihnen den Ort auch wieder. Und wäre da am Ende nicht jemand, der diesmal keinen ungestempelten Brief in den Kasten wirft, sondern die Klingel drückt, die gleich daneben platziert ist, könnte man meinen, das ganze sei einfach nur ein schön erzählter schräger Traum gewesen, der sich zum Albtraum ausgewachsen hat.

Franz Lettner