Martine Murray: Das feuerrote Kleid

Martine Murray seziert das Innenleben einer bis ins Mark verunsicherten 16-Jährigen, die nie gelernt hat, eine tragfähige positive Beziehung zu sich selbst oder ihrer Umwelt aufzubauen.

Reinbek: Rowohlt Taschenbuchverlag 2005


Rot ist mehr als nur eine Farbe. Rot bedeutet Leidenschaft, Dramatik, Außergewöhnlichkeit. Eigenschaften, die die Ich-Erzählerin Manon in Martine Murrays neuem Jugendroman „Das feuerrote Kleid“ in ihren eigenen Augen nicht besitzt. Sie muss sie sich anziehen, überstülpen, indem sie das Kleid ihrer Mutter trägt. Einen Tag und eine Nacht lang. 24 Stunden, in denen sie von zu Hause fortgeht in der Hoffnung auf einen neuen Anfang, ein neues Leben, ein neues Ich. Denn das alte bedeutet nur Schmerz und Verlust.

Martine Murray seziert das Innenleben einer bis ins Mark verunsicherten 16-Jährigen, die nie gelernt hat, eine tragfähige positive Beziehung zu sich selbst oder ihrer Umwelt aufzubauen. Die manisch-depressive Mutter, angeblich eine französische Schauspielerin, kann ihren Lebenshunger in der australischen Kleinstadt nicht stillen und verlässt die Familie mit einem anderen Mann. Wirklich anwesend war sie ohnehin nie. Die gleichgültige Ich-Bezogenheit, mit der sie ihre Tochter nicht wahrnimmt, führt das Mädchen in ein umfassendes Gefühl der Minderwertigkeit, das sich bis zur Selbstentfremdung steigert. „Wenn man sich also nach etwas sehnt und wartet und wartet und sich sehnt, dann ist man ständig hin und her gerissen. Man geht in einer Zickzacklinie anstatt geradeaus wie die meisten anderen Leute. Es ist, als blieben die Knochen an Ort und Stelle, während Herz und Seele so weit vorausgeeilt sind, dass man sie nicht mehr zurückholen kann. Man ist also möglicherweise nicht mal mehr ganz, und am Ende fühlt man sich verzweifelt und finster, wie diese Pappeln, die sich wie ein Bogen über die Einfahrt der Nelsons beugen.“

Als ihr Bruder Eddie tödlich verunglückt, verschwindet die einzige Bezugsperson in Manons Leben. Denn die beginnende Liebe zu ihrem Nachbarn Harry ist noch zu vage und neu, als dass sie ihr in ihrem emotionalen Chaos Halt oder Orientierung geben könnte.

Das klingt alles düster, schwierig, schwer. Ist es auch. Doch das Buch lässt einen irgendwie nicht mehr los - nicht nur, weil das Psychogramm so intensiv ist: Durch die verschachtelte Erzählweise bekommt die Geschichte einen Zug, der einen zum Weiterlesen zwingt.

Erst Stück für Stück entrollt sich die Geschichte: Die Abwesenheit der Mutter ist zwar von Anfang an zwischen den Zeilen zu lesen – die Hintergründe werden aber erst nach und nach klar. Von Eddies Tod, dem handlungsauslösenden Moment, erfährt man überhaupt erst im letzten Buchdrittel.

Chronologisch nicht geordnete Rückblenden durchbrechen laufend die erzählte Gegenwart von Manons Fahrt nach Melbourne: Eine Reise zu ihrer im Altersheim lebenden Großmutter und zu einer von Eddie hinterlassenen Adresse, von der sie vorerst noch nicht weiß, wer sie dort erwartet. Und genau diesen Lücken will man als Leser auf die Spur kommen.

Cover
Da verzeiht man der Autorin schon mal die eine oder andere schiefe Metapher. Und an bildhaften Vergleichen mangelt es wirklich nicht – Murray erzählt generell in Bildern, setzt auf die Aussagekraft von Assoziationen. In dieser Bilderflut kommen die Figuren sehr plastisch beim Leser an. Allen voran die Protagonistin, aus deren Perspektive erzählt wird, wobei dem Leser in kleinen Details Informationen gegeben werden, die über Manons Sicht hinausgehen. Wenn ein Mann etwa bemerkt, dass sie aussieht wie ihre Mutter – eine überaus schöne, aufregende Frau. Eine Einschätzung, die in absolutem Kontrast zu Manons Selbstwahrnehmung steht. Aber auch alle anderen fügen sich mit Verlauf der Geschichte zu immer vollständigeren und komplexeren Persönlichkeiten zusammen: Eddie, der von allen geliebte und bewunderte Bruder, dem im Unterschied zu seiner Schwester scheinbar immer alles in den Schoß fällt und der dennoch nie Aufmerksamkeit heischt oder selbstgefällig wird. Der in sich ruhende, sensible Harry, der eine kurze, uneingelöste Hoffnung darauf darstellt, Manons selbstanklagende innere Stimmen zum Schweigen zu bringen. Der stille, duldende Vater, dessen ehrgeizigste Handlung es war, diese fremdländische Frau zu heiraten. Manons Mutter, vielschichtige Zentralfigur, die nur in Umrissen, aber umso schärfer gezeichnet wird.

Herausgekommen ist das dicht erzählte Protokoll einer Selbstfindung, deren Ausgang hier nicht verraten werden soll. Nur soviel: am Ende liegt das feuerrote Kleid an einem Strand. Man kann den Versuch, sich ein neues Ich anzuziehen, auch abbrechen.

Karin Haller