Gabi Kreslehner: Charlottes Traum

Die Pubertät ist schon an und für sich kein Spaziergang, auch ohne Scheidung der Eltern und Verlust des geliebten Hauses. Doch genau das passiert im Leben der 15jährigen Charlotte.

Weinheim: Beltz & Gelberg 2009


Die Pubertät ist schon an und für sich kein Spaziergang, auch ohne Scheidung der Eltern und Verlust des geliebten Hauses. Doch genau das passiert im Leben der 15jährigen Charlotte: Als das Verhältnis des Vaters auffliegt, findet sie sich plötzlich mit ihrer Mutter und den beiden kleineren Brüdern in der Wohnung der Großmutter wieder. Ihr Zuhause mit der Ulme davor, ihr schützender Erdbeerbaum, alles was sicher schien und vertraut, ist Vergangenheit. Die Gegenwart irritiert mit Unbekanntem: ein anderer Partner der Mutter, zu dem sie dann auch ziehen, ein Halbgeschwisterchen von Papa, neue Freundschaften – und vor allem die erste große Liebe. Mit Carlo erlebt Charlotte die damit verbundene Unsicherheit, Aufregung und zärtliche Geborgenheit, erfährt wie schön es sein kann, sich darauf einzulassen:

„So also, dachte ich, ist das jetzt. Und ließ es. Ihn und mich und die Liebe. Und sprang weit. Und hoch. Und hatte keine Angst. War wie Fliegen. Hatte keine Angst.“

Carlo hilft Charlotte, mit ihrem Verlust, ihrem Zorn und ihrer Trauer besser fertig zu werden. Und am Ende übernimmt sie die Verantwortung für ihr Leben, trifft Entscheidungen, die ihr gut tun, fährt ohne elterliches Wissen nach Italien auf Urlaub, zu Carlo. Und es sieht so aus, als ob alles ein wenig leichter werden könnte.

Gabi Kreslehner, im Brotberuf Hauptschullehrerin, ist mit ihrem Erstling ein grenzüberschreitender Erfolg gelungen, der einer österreichischen Autorin so schon länger nicht mehr beschieden war. „Ringlotten am Erdbeerbaum“, wie das im Rahmen des „schreibzeit“ – Förderprogrammes entstandene Manuskript vor seiner Veröffentlichung ursprünglich hieß, gewann eine Reihe von Preisen, darunter den namhaften Peter Härtling Preis, begeisterte Juroren, Kritiker und Autorenkollegen.

Das Buch kommt einem nahe, ohne sich anzubiedern. Das liegt vor allem an der unvermittelten Direktheit, mit der Gabi Kreslehner das Innenleben ihrer Ich-Erzählerin freilegt, ohne Kommentare, ohne Schnörksel, ohne Längen. Dabei aber immer sehr behutsam und zart. Diese Autorin mag ihre Hauptfigur.

Und sie mag – auch das ist das Besondere – die Erwachsenen in diesem Text. Hier gibt es keine Feindbilder, keine billigen Schwarz-Weißzeichnungen.

Der Vater, der fremdgeht und damit das schon zuvor brüchige Zusammenleben der Familie zum Einsturz bringt, die Mutter, die kraftvoll – verzweifelt versucht, mit der neuen Situation fertig zu werden, die jüngere Freundin des Vaters, der neue Partner der Mutter – sie alle sind mit Verständnis, aber auch ohne Beschönigungen differenziert gezeichnet. So ist es möglich, dass sich die Beziehungen zueinander zwar ändern, die Liebe und die Nähe zwischen den Eltern und ihrer Tochter aber bleiben. Glücklich sind sie alle nicht, aber auch nicht gebrochen. So ist das Leben eben.

Cover
Das intuitive Gefühl für Nuancen und vordergründige Widersprüchlichkeiten, die sich zu einem homogenen Gesamtbild runden, betrifft nicht nur die Handlungsführung und die Figurenzeichnung, sondern auch die intensive formale Gestaltung des Textes. Längere Aneinanderreihungen finden sich ebenso wie extrem verknappte Satzfetzen, Dialoge werden in direkter wie in indirekter Rede geführt. Und immer wieder überrascht die Autorin mit neuen sprachlichen Bildern, in denen sie Befindlichkeiten auf den Punkt bringt.

Gabi Kreslehner verdichtet und reduziert ohne den Verlust epischer Atmosphäre, äußere Spannung entsteht durch die dichte Aufeinanderfolge von kleinen und großen Ereignissen, innere Spannung durch den auf den ersten Blick fast unmerklichen Reifungsprozess der Erzählerin.

Zwischen dem wütenden, verzweifelt hilflosen Aufschrei - „Ich wohne hier nicht mehr. Scheiße, ja, ich wohne hier nicht mehr, und wer was anderes sagt, der lügt“ – zwischen diesem Anfang und der Leichtfüßigkeit des Endes liegen Charlottes Ängste, Wut, Verzweiflung, Resignation und Aufbegehren, liegen glückliche und traurige Momente. Eine alltägliche Geschichte. Aber eben nicht alltäglich erzählt.

Karin Haller