Polly Horvath: Der Blaubeersommer

Normalerweise wird man nicht nach einem auf der Entbindungsstation vergessenen Werkzeug benannt. Aber normal ist im Leben der dreizehnjährigen Ratsche sowieso nichts.

Aus dem Englischen von Christiane Buchner
Berlin: Bloomsbury 2005


Normalerweise wird man nicht nach einem auf der Entbindungsstation vergessenen Werkzeug benannt. Aber normal ist im Leben der dreizehnjährigen Ratsche sowieso nichts. Mit ihrer reflexionslos-egozentrischen Mutter haust sie in einer fensterlosen Kellerwohnung in Florida, ernährt sich größtenteils von Keksen und achtet peinlich darauf, niemandem ihren Rücken zu zeigen, der von „dem Ding“ verunstaltet wird.

Eines Tages wird sie ohne Vorwarnung und natürlich ohne Gepäck in die Sommerferien geschickt, zu ihren Urgroßcousinen Tilly und Penpen. Die beiden einundneunzigjährigen Zwillinge leben in einem Haus jenseits aller Zivilisation, umgeben von einem großen Garten, dem Meer und einem Wald voller Blaubeeren und wilden Bären – derentwegen man Glen Rosa auch nur im schützenden Auto erreicht. Und auch das nicht immer.

Bei den beiden völlig abgedrehten alten Damen erlebt die schüchterne Ratsche erstmals Zuwendung, Geborgenheit und Akzeptanz. Wird durch eine einfache Operation von „dem Ding“ auf ihrem Rücken befreit, von ihren Selbstzweifeln, ihrem Minderwertigkeitsgefühl. Als dann durch Zufall auch noch das Waisenmädchen Harper zu ihnen stößt, entwickelt sich die Gemeinschaft endgültig zu einer Familie. Die über die Sommerferien hinaus Bestand hat: Ratsche wird nie wieder in das Kellerloch zu ihrer Mutter zurückkehren.

Polly Horvath entwirft in ihrem Roman eine ganze Reihe von mehr als exzentrischen Charakteren, die in ihrer Einmaligkeit zu ausgesprochenen Sympathieträgern werden. Allen voran Tilly und Penpen, die in der Wildnis eine symbiotisch-glückliche Ko-Existenz führen. Was sie der staunenden Ratsche nach und nach von ihrem Leben erzählen, zeugt von der eigenwilligen Kompromisslosigkeit, sich selbst treu zu bleiben, von zwischenmenschlichem Respekt und von der Entwicklung dessen, was in Ratgebern gerne als „Bewältigungs-strategien“ bezeichnet wird. Tilly und Penpen schildern selbst größte Schicksalsschläge mit trockenem Fatalismus. Dass ihre Mutter sich selbst geköpft hat, kommentieren sie mit „Es war jedenfalls keine Nullachtfünfzehn-Methode. Unsere Mutter hat nie Nullachtfünfzehn-Sachen gemacht.“

Keine der Figuren oder Geschichten erhebt den Anspruch, realistisch zu sein - dazu ist die Überzeichnung viel zu offensichtlich.Wenn Mütter im Krankenhaus fast aus dem Fenster gekippt werden oder omnipräsente Bären arglose Gärtner in ihre Einzelteile zerlegen, stellt man sich nicht die Frage nach dem Wahrheitsgehalt. Sondern genießt einfach nur die skurrilen Einfälle, die tiefgründig – witzigen Geschichten, die Außergewöhnlichkeit der Darsteller. Und die Mühelosigkeit, mit der erzählt wird. In einem Interview meint die Autorin:

„This is a great misconception about writing, that writers are thinking about it while they are doing it.“ Das merkt man dem Buch an: Polly Horvath hat sich von ihrem Text treiben lassen, ohne sich zu verzetteln. Ihre Botschaftslosigkeit tut wohl. Da will jemand einfach nur eine gute Geschichte erzählen, keine Überzeugungen als allgemein gültig verkaufen. So wie jede einzelne der ProtagonistInnen ihr Leben nach eigenen Maßstäben und Bedürfnissen führt oder zu führen lernt: Tilly und Penpen ebenso wie ihre jungen Nachfolgerinnen Ratsche und Harper.

Cover
„Der Blaubeersommer“ präsentiert schwarzen Humor vom Feinsten. Die pointiert-geistreichen Dialogen der zwei Alten erinnern stellenweise an beste Screwball-Comedies, klug, verrückt, urkomisch. Trotz aller Exzentrik driftet der Text niemals in die Lächerlichkeit ab, bleibt innerhalb seiner eigenen Gesetze immer schlüssig. Die Charaktere und Geschichten mögen zwar nicht realistisch sein, aber sie sind glaubwürdig.

„The Canning Season“ wurde in den USA und in Kanada mit zahlreichen Preisen bedacht; es wäre ihm zu wünschen, dass auch die deutschsprachige Kritik darauf aufmerksam wird. Ein ausgesprochenes Lesevergnügen nicht nur für Jugendliche.

Karin Haller