Joyce Carol Oates: Bad Girls

„Böse Mädchen! Das ist nämlich das, was die Erwachsenen meinen, wenn sie sagen, man sei böse – dass man was macht, was ihnen nicht passt.“

Übersetzt von Birgitt Kollmann
München: dtv 2004


„Böse Mädchen! Das ist nämlich das, was die Erwachsenen meinen, wenn sie sagen, man sei böse – dass man was macht, was ihnen nicht passt.“

„Bad Girls“ – böse Mädchen in diesem Sinne sind sie allemal, die ProtagonistInnen in der gleichnamigen Erzählsammlung von Joyce Carol Oates. Ihr Verhalten, ihre Aktionen sind die lebendig gewordenen Albträume von Müttern pubertierender Töchter. Sie brechen in Häuser ein, um den Liebhaber der Mutter zu entlarven, beschuldigen diesen der versuchten Vergewaltigung und zerstören damit sein Leben, sie fallen in sexuelle Abhängigkeit zu einem Zuhälter und nehmen Drogen, sie klettern nachts über Brückenträger und gehen mit älteren Männern mit, die sie nicht kennen. Die zehn Geschichten kreisen um Mädchen in Lebenssituationen, in denen sie mit einer – oft durch Männer repräsentierten Gefahr – konfrontiert sind, Situationen, in denen Lawinen losgehen. „Little Avalanches“, kleine Lawinen, heißt auch eine der Erzählungen, die bezeichnenderweise als Buchtitel für die englische Originalausgabe gewählt wurde.

Die Mädchen bei Oates versuchen, sich in der Lawine am Leben zu erhalten, indem sie kämpfen. Jede auf ihre Art, jede mit ihren eigenen Mitteln. Einerseits sind sie Kinder, andererseits schon junge Erwachsene, naiv unschuldig und eiskalt abgebrüht gleichermaßen, voller Zwiespälte und Unsicherheiten, voller Klarheit und Kompromisslosigkeit. Sie sind, und das ist das Außergewöhnliche angesichts der einzelnen Plots, keine Opfer, sondern Akteurinnen, niemals ausgeliefert, sondern ihr Leben auch in Extremsituationen mitgestaltend. Wie in dem – im übrigen nicht wirklich bemerkenswerten - Western „bad girls“ aus dem Jahr 1994 sind sie Rebellinnen, weibliche Outlaws, die sich nicht um die „do´s“ und „dont´s“ allgemeingültiger Verhaltenscodices scheren. Sie weichen ihrer Angst und ihrer Verzweiflung nicht aus, sondern stellen sich ihr. Treffen Entscheidungen, die in den Augen von erziehungsberechtigten Erwachsenen eindeutig die falschen sein müssen, weil sie sich unmittelbar in die Gefahr begeben, anstatt sie zu vermeiden. Und dennoch werden diese Entscheidungen vom Text niemals als „falsch“ markiert, nicht relativiert und nicht erklärt: Diese Geschichten kommen ganz ohne Moral aus. Deutlich wird aber auch, dass wir die Konsequenzen unserer Entscheidungen zu tragen haben.

Cover
Fast alle Texte dieser Sammlung spielen im amerikanischen Klein - und Kleinststadt-Ambiente, sind mit einer verschlissenen und drückend-schwülen Atmosphäre unterlegt. Die Autorin, die selbst auf dem Land in der Nähe von New York aufwuchs, schöpft laut eigener Aussage in ihrem Schreiben aus diesen Kindheitserinnerungen ebenso wie aus ihrem Leben in Detroit, einer Stadt, in der soziale Spannungen und Gewalt besonders spürbar sind.

Joyce Carol Oates, Literaturprofessorin in Princeton und eine der bekanntesten US- Autorinnen, schreibt erst seit 1998 auch für junge LeserInnen und Leser. Der erste war „Unter Verdacht“, der nächste – „Mit offenen Augen. Die Geschichte von Freaky Green Eyes“ ist ab 5.Februar im Buchhandel. Darin kreist sie um die Themen Gewalt, Freiheit, Angst und Mut, wie eben auch in „Bad Girls““.

Oates arbeitet teilweise mit schwierig zu entschlüsselnden Erzählstrukturen, „bad girls“ stellt nicht nur in literarischer Hinsicht große Anforderungen. Um mit der düsteren Spannung, mit den vielen Leerstellen und Andeutungen, mit der Urteilslosigkeit der Perspektiven gut umgehen zu können, braucht es ein gewisses Maß an Rezeptionsvermögen. Dann aber kann man sich der bedrückenden Faszination dieser Innenwelten nicht entziehen, sondern liest fast atemlos weiter, um schließlich von den meisten der Kurzgeschichten in ein sehr offenes Ende entlassen zu werden, das nichts auffängt, sondern weiterdenken lässt.

In einer der Erzählungen ist vom „Ich hinter den Augen“ die Rede, womit gemeint ist, in entscheidenden Momenten zurückzutreten und sich selbst zu sehen. Diese Fähigkeit besitzen die „bad girls“ von Oates allemal. Und deshalb gehen sie auch nicht unter.

Karin Haller