Andrew Smith: Auf Umwegen

„Ich habe manchmal Anfälle und werde ohnmächtig. […] Meine Krankheit ist ein Andenken an den Tag, als ein totes Pferd vom Himmel fiel, genau auf mich und meine Mutter drauf.“

Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring
Hamburg: Carlsen 2015


„Ich habe manchmal Anfälle und werde ohnmächtig. (…) Meine Krankheit ist ein Andenken an den Tag, als ein totes Pferd vom Himmel fiel, genau auf mich und meine Mutter drauf.“
Mit zunächst unaufgelösten Verweisen wie diesem lässt der kalifornische Autor Andrew Smith seine Leserinnen und Leser öfter in einer Mischung aus Neugier und Verwirrung zurück. „Auf Umwegen“, der Titel passt gut, denn das Buch springt gerne kreuz und quer in der Erzählzeit herum, wählt nicht den direkten Weg, um zum Ende zu kommen. Ein buntes Mosaik von Situationen, Erinnerungen, Überlegungen. Geschichten werden angerissen und erst später auserzählt, so wie eben die vom Pferd, das vom Himmel fällt:

Als Finn Easton sieben Jahre alt ist, kippt der Laster einer Tierverwertungsgesellschaft auf einer Brücke um, ein Teil der Ladung fällt runter. Finns Mutter stirbt, er selbst wird schwer verletzt und ist seither Epileptiker. Eine Krankheit, die er sogar mag, nämlich dann, wenn sich der Anfall ankündigt, dann riecht er Blumen und alles erscheint ihm besonders schön. Schrecklich ist es, wenn er vollgepisst und zitternd aus seiner Ohnmacht aufwacht: „Das Zurückkommen tut weh. Es tut weh wie die Sau.“

Bei seinen Anfällen löst sich alles auf, zusammen mit den Worten, Zeit und Raum. Also hat Finn eine Methode entwickelt, um sich in seiner ständig einstürzenden und wieder neu zusammensetzenden Welt zu orientieren: Er misst die Zeit in Entfernungen. „Die Erde legt in jeder Sekunde ungefähr zwanzig Meilen zurück, das ist leicht auszurechnen, Pi, unsere Entfernung von der Sonne, dreihundertfünfundsechzig Tage, fertig.“
Eine andere Methode, sich zu schützen, besteht in einer Maske der guten Laune – Finn ist immer gut drauf, unabhängig davon, was wirklich in ihm vorgeht. Diesen Panzer legt er erst ab, als er sich – mit der Absolutheit von unerfahrenen 17 Jahren – in Julia Bishop verliebt. Die auch ihren Rucksack zu tragen hat und Finn gerade deshalb auf Augenhöhe begegnet. Und glücklicherweise seine Liebe erwidert. Zwar wird sie wieder nach Chicago zurück gehen müssen, doch Finn wird zum ersten Mal aus Kalifornien herauskommen und die Erfahrung machen, „dass die Meilen zwischen ihnen bedeutungslos geworden sind.“

Cover
Finns Welt definiert sich neu – und nicht nur in dieser Hinsicht: Sein Leben lang hatte der Junge das Gefühl, in dem Science-Fiction Bestseller seines Vaters, der den eigenen Sohn als Motivvorlage gewählt hat, gefangen zu sein. Am Ende wird empfundene Fremddetermination zu Selbstbestimmung. „Ich befand mich jetzt in meiner eigenen Geschichte.“

Die Jugendliteratur liebt außergewöhnliche Protagonisten wie Finn, den Epileptiker mit den heterochromatischen Augen, eines grün, eines blau. Oft sind es schüchterne, verkopfte Teenager, die viel zu viel nachdenken und zu wenig leben – das übernimmt ein als Gegenstück zum Helden konzipierter Sidestep. So auch hier. Finns bester – und einziger Freund - Cade muss seine grundsätzlich gute Laune nicht vortäuschen, er hat das Glück gepachtet, zumindest in Finns Wahrnehmung. Er agiert reflexionsfrei aus dem Bauch heraus und dabei höchst effizient. Wenn er sich mit einem doofen Lehrer anlegt, kann er ihn so sehr provozieren, dass dessen Aneurysma platzt. Keine Peinlichkeit wird ausgelassen, Intelligenz paart sich mit unbekümmerter Unbedarftheit.
Der Autor konstruiert nicht nur gewagte Handlungselemente so, dass man sie ungeachtet ihrer Absurdität ohne weiteres annimmt, er macht auch ausgesprochen schräge Figuren glaubhaft. Für Finns Dad ist Cade Hernandez nur eine tabakkauende, zu viel Bier trinkende Nervensäge mit einer Vorliebe für four letter words, für den Ich-Erzähler ist Cade ein charismatischer Gott, der niemanden und nichts fürchtet und „bei Mädchen einen spontanen Eisprung auslösen kann.“
Andrew Smiths Witz, manchmal hart an der Grenze zum Kalauer, changiert in verschiedenen Farben, arbeitet – wie etwa in einer Szene, in der die Jungs Kondome kaufen – mit dem humoristischen Breitschwert, kennt aber auch die feinere Klinge.

„Auf Umwegen“, diese tragikomische Geschichte ist wie eine Wundertüte voller Irrwitz und Absurditäten, Humor und Tiefgang, Situationskomik und philosophischer Reflexionen über das Leben und das Universum, voller Seltsamkeiten und Überraschungen. Das ist nicht nur für Weihnachten gerade richtig.

Karin Haller