Benjamin Alire Sáenz: Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums

„Fast siebzehn zu sein, kann brutal, schmerzvoll und verwirrend sein.“

Übersetzt von Brigitte Jakobeit
Stuttgart: Thienemann 2014


„Fast siebzehn zu sein, kann brutal, schmerzvoll und verwirrend sein.“ Der Ich-Erzähler in Benjamin Alire Sáenz neuem Roman „Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums“ bringt es auf den Punkt.

Ari, Sohn mexikanischer Einwanderer im El Paso der 80er Jahre, ist ein Einzelgänger, weil er es so will. Allein zu sein macht ihm zwar keinen großen Spaß, aber es ist ihm immer noch lieber, als mit jemandem reden zu müssen. Loser ist er definitiv keiner, wenn ihm einer blöd kommt, schlägt er zu, was ihm bei den anderen zu distanziertem Respekt verhilft. Glücklich ist Ari in seiner selbstgewählten emotionalen Isolation nicht, ganz im Gegenteil. In wenig zielführenden Gedankenschleifen schlägt er sich mit seinen Alpträumen herum, der verwirrten Dunkelheit, die er in sich fühlt, mit seiner latenten inneren Aggression. Und vor allem leidet er unter der Sprachlosigkeit in seiner Familie: Über seinen älteren Bruder, der mit bloßen Fäusten gemordet hat und im Gefängnis sitzt, darf nicht gesprochen werden; sein Vater schweigt eisern über den Vietnamkrieg, aus dem er als ein anderer zurückgekommen ist. Dabei wird Ari von seinen Eltern bedingungslos geliebt; findet er zum Vater zunächst keine Nähe, verbindet ihn mit der Mutter Verständnis und Akzeptanz. Doch es fällt dem Jungen nicht leicht, das einfach anzunehmen: „Liebe war für mich immer etwas Schweres.“

Und dann trifft Ari auf Dante. Der ist ganz anders als er. Selbstbewusstsein trifft auf Selbstzweifel, Offenheit auf Verschlossenheit, eloquenter Redefluss auf vorsichtige Einsilbigkeit. Dante weint auch immer wieder mal, wenn die Gefühle zu groß werden, Ari – der von anderen nicht zufällig wie Che Guevara ohne Bart beschrieben wird – würde Gefühle nicht einmal unter der Folter zeigen. Doch mit unbeirrbarer Herzlichkeit und Wärme kratzt Dante an den Mauern, die Aristoteles um sich herum aufgebaut hat – die beiden werden Freunde. Beste Freunde, die miteinander lachen und immer mehr miteinander reden. Und sie haben, von ihren Familien abgesehen, nur einander. Denn auch der intellektuelle, Gedichte liebende Dante ist merklich anders als der Durchschnitt, erst recht, als er sich selbst und später Ari eingesteht, dass er lieber Jungs als Mädchen küssen möchte. Als er das dann auch wirklich tut, wird er von einer Gang krankenhausreif geprügelt. Was Ari umgehend rächt, indem er einem der Täter die Nase bricht. So, wie er sich im buchstäblichen Sinn ein Jahr zuvor vor ein Auto geworfen hat, um Dante das Leben zu retten. Dante hat Ari seine Liebe mit Worten gestanden. Ari handelt.

Mehr soll hier nicht verraten werden, schon gar nicht, welche Antworten Ari auf seine Fragen nach den eigenen Bedürfnissen und Sehnsüchten findet. Denn das Faszinierende an diesem Text ist, wie bruchlos überzeugend und authentisch er aus der Perspektive des Ich-Erzählers geschrieben ist. Ari widerspricht sich permanent selbst, weil seine Gefühle eben auch so widersprüchlich sind, lügt sich selbst an, vermag seine suchende Verwirrung zunächst nicht aufzulösen. Und der Lesende ist sich wie der Ich-Erzähler oft nicht sicher: Wie ist es denn nun wirklich?

Cover
Erzählerisches Mittel sind dabei neben den inneren Monologen vor allem die vielen, teilweise umfangreichen Dialoge, grandios in ihrer Flüssigkeit und Treffsicherheit. Zu lesen ist nur die direkte Rede ohne Sprechermarkierungen, und immer wieder wird klar: Was einer sagt, ins Außen bringt, ist mit dem Innen oft nicht deckungsgleich.

Neben den großen Themen Liebe, Freundschaft, Loyalität, Identitätssuche und Selbstfindung, die natürlich im Mittelpunkt stehen, geht es auch ganz wesentlich um die Notwendigkeit offener Kommunikation. Miteinander zu reden, auch schmerzhafte Themen anzusprechen, zu lernen, zu seinen Gefühlen zu stehen, sie in Worte zu fassen und anderen mitzuteilen – das wird für Ari zum Schlüssel, aus seinem ganz persönlichen Gefängnis der Orientierungslosigkeit und Einsamkeit herauszukommen, Klarheit zu finden. Ein Entwicklungsprozess, den nicht nur er durchlebt, sondern auch seine Eltern, die jahrelang das Schweigen gewählt haben, um sich vor Schmerz zu schützen. Am Ende steht die Befreiung: „Aristoteles Mendoza, ein freier Mann. Ich hatte keine Angst mehr.“

In seiner Danksagung meint Sáenz, dass er das Buchprojekt fast wieder aufgegeben hätte. Es zu schreiben, scheint dem heuer sechzigjährigen, mehrfach preisgekrönten Autor mit mexikanischen Wurzeln, der sich erst vor sechs Jahren öffentlich zu seiner Homosexualität bekannte, einiges abverlangt zu haben. Es ist ein ausgesprochener Glücksfall, dass er das Buch beendet hat. Unbedingte Leseempfehlung für jeden und jede ab 14 Jahren. Die Geheimnisse des Universums zu entdecken, ist keine altersmäßig begrenzte Herausforderung.

Karin Haller