Malene Sølvsten: Ansuz – Das Flüstern der Raben

Eine wilde Mischung aus skandinavischem Thriller, nordischer Sage und klassischer Fantasy

Aus dem Dänischen von Justus Carl und Franziska Hüther
Zürich: Arctis 2021. 800 S. | € 22,70 | ISBN-13978-3-03880-047-7

Ob Thor im Marvel-Universum oder „Ragnarök“ bei Netflix, die nordische Mythologie ist vor geraumer Zeit in der Populärkultur angekommen – und in der Jugendliteratur. In einer Vielzahl von Titeln begegnen junge Menschen Odin oder Loki, sind selbst göttlicher Abstammung, ohne es zu wissen, kämpfen gegen den Untergang der Welten. Und nun ist ein neues Schwergewicht in der Jugendfantasy erschienen, buchstäblich. „Ansuz“, der erste Band der Trilogie „Das Flüstern der Raben“, mit dem die dänische Autorin Marlene Sølvsten einen Überraschungs-Debüterfolg landete, wiegt mehr als ein Kilo.

Mit ihren siebzehn Jahren blickt Anne auf ein ziemlich hartes Leben zurück. Von ihren Eltern wurde sie verlassen, von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht, eine Außenseiterin ohne Freunde, die entweder übersehen oder angegriffen wird. Und noch dazu ein Geheimnis verbergen muss, die Gabe der Hellsichtigkeit. Sie kann Ereignisse aus der Vergangenheit wahrnehmen und die Emotionen anderer Menschen spüren. Was ihr genauso unerklärlich ist wie die unmotivierte Aggression, mit der ihr die meisten Menschen begegnen. Anne hat gelernt, sich dagegen zu wehren, mit menschenfeindlicher Zurückgezogenheit, grundsätzlichem Misstrauen und einem durchtrainierten Körper.

 

ansuz

Doch als sie nach Ravnssted zieht, in das ehemalige Haus ihrer Eltern, ändert sich plötzlich alles. Ihre neuen Klassenkameraden Luna und Mathias suchen unbeirrbar Annes Freundschaft, und dann ist auch noch Varnar, der die Liebe der Ich-Erzählerin vehement zurückweist und trotzdem immer in ihrer Nähe ist. Will er sie beschützen, weil in der Umgebung brutale Morde an rothaarigen Mädchen verübt werden? Stehen diese in Verbindung mit Annes wiederkehrender Vision, in der eine junge Frau getötet wird? Warum werden die Opfer mit einer Rune gezeichnet?

Nach und nach entdeckt das Mädchen, welche Geheimnisse rund um sie verborgen sind und findet eine andere Welt, mit der unsrigen verbunden und verwoben. Ohne es zu wissen, scheint Anne eine entscheidende Rolle in der Auseinandersetzung zwischen einer bösen Machthaberin und Rebellen zu spielen. Doch wer ist Freund, wer Feind in diesem Kampf?

Es ist bemerkenswert, wie es Malene Sølvsten gelingt, auf achthundert Seiten eine wilde Mischung aus skandinavischem Thriller, nordischer Sage und klassischer Fantasy ohne wahrnehmbare Bruchstellen zusammen zu packen. Auf Odinshöhe, Annes Haus, geben sich ein dänischer Kommissar, Hexen, Geister, Halbgötter, Berserker oder ein schelmisch-attraktiver Götterbote die Klinke in die Hand, und es liest sich wie aus einem Guss. Es ist die Ich-Erzählerin, die den spannenden Plot zusammenhält, eine gelungene Mischung aus Lara Croft und Twilight-Bella, hart im Nehmen, wenig zimperlich im Austeilen und dabei voller Selbstzweifel.

Wie so oft in der Literatur kommt es nicht auf das Was an, sondern auf das Wie. Auch wenn viele Handlungselemente und Figuren an bekannte Motive erinnern, wirkt der Roman frisch und dazu ausgesprochen unterhaltsam. Weil er auch richtig witzig sein kann – nicht nur in der Ausgestaltung der außergewöhnlichen Charaktere, sondern in den inneren Monologen Annes, oft nur ein Satz oder Satzfragment, staubtrocken selbstironisch.

Humor ist im Fantasy-Genre nicht alltäglich, auch nicht in der Kombination mit der doch recht deutlichen Schilderung von Nahkampfszenen oder Morden. Als Klassenlektüre würde ich den Titel nicht empfehlen, ganz abgesehen davon, dass 800 Seiten eine gewisse Lesekompetenz voraussetzen. Aber sehr wohl für Liebhaber*innen guter Unterhaltung, und da dieser erste Band einer Trilogie durchwegs in der uns bekannten realen Welt spielt, wird „Ansuz“ nicht nur Fans des Fantasy-Genres begeistern können. Man kann gespannt sein, was sich in der nächsten Staffel tut –- da wird sich Anne durch die Parallelwelt und vermutlich immer noch gegen den Weltuntergang kämpfen. Stay tuned!

Karin Haller