Jon Ewo: Am Haken

Das Leben ist wie eine Wassermelone – und man soll sich ein großes Stück davon nehmen, erklärt Jon Ewo in seinem neuen Jugendroman „Am Haken“. Was für den 17jährigen Bud Martin mit seinen 105 kg nicht so leicht ist.

Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt
München: dtv 2010


Das Leben ist wie eine Wassermelone – und man soll sich ein großes Stück davon nehmen, erklärt Jon Ewo in seinem neuen Jugendroman „Am Haken“. Was für den 17jährigen Bud Martin mit seinen 105 kg nicht so leicht ist. Dabei ist es nicht sein Übergewicht, das ihn stört – er mag sein Fett. Die Schutzschicht wärmt, isoliert, ist weich und schützt vor Kollisionen. Und sie verschafft Respekt: „Auf den Letzten, der versucht hat, mich zu mobben, habe ich mich einfach draufgesetzt.“ Auch dass er kaum Freunde hat, ist nicht dramatisch, schließlich hat er Selma, treue Freundin seit dem Kindergarten, übergewichtig wie er und gerade auf dem Sprung in das „Fatburning Camp“ einer TV-Reality Show. Doch was ihm vor den Ferien jedes Selbstbewusstsein geraubt hat, ist das Scheitern seiner persönlichen Revolution. Im wochenlangen Krieg mit dem Sportlehrer hat Bud erstmals Verweigerung, Auflehnung und Selbstbestimmung geprobt – um am Ende die Turngeräte abzufackeln und dabei nicht das Gefühl des Sieges, sondern das Bewusstsein des Scheiterns zu haben. Jetzt führt er ein Mäuseleben – möglichst unauffällig, möglichst geschützt, bei Schwierigkeiten sogar am liebsten im Schrank. Ganz abgesehen davon, dass er jetzt dem Schulpsychologen einen Bericht über die Hintergründe der Tat mailen muss, und dafür hat er nur noch diese eine letzte Ferienwoche Zeit.

Und genau jetzt kommt sein Cousin Jerry zu Besuch. Jerry – Flutwelle, Vulkanausbruch und Erdbeben in einem, in allem das genaue Gegenteil von Bud: Bud ist gemütlich, langsam, spricht wenig und wenn, dann mit vielen ähs und ahs. Jerry ist manisch, energiegeladen, reflexionsfrei von sich selbst überzeugt und redet ohne Punkt und Komma. Wie erwartet bricht mit ihm das Chaos in Buds Leben aus. Im Mittelpunkt steht die Jagd nach dem Riesenhecht, den Jerry fangen will, um die Damenwelt zu beeindrucken. Wobei das Objekt der Begierde im Minutentakt wechselt, ob Selma oder die toughe, wunderschöne Maggie – Jerry verliebt sich so schnell, wie er spricht.

Die Jagd nach dem Hecht geht zwar anders aus, als erwartet. Doch Bud hat am Ende in dieser einen Woche nicht nur mehr erlebt als im ganzen Jahr davor, sondern auch den Bericht an den Schulpsychologen geschrieben und seinen Lebenswillen, Mut und Selbstwert in einer neuen, größeren Ausgabe gefunden. „Ich will alles“ brüllt er im letzten Satz des Buches dem Lesenden entgegen.

„Ein maximalistischer Roman über das Leben, die Liebe und den großen Hecht“ lautet der Untertitel des Buches, in dessen Nachwort der Autor selbst nochmals deutlich macht, worum es geht: Um die Vielfalt des Lebens. „Davon, dass es so viel da draußen gibt.“

Cover
Jon Ewo spielt diese Komplexität mit seinen beiden Extremen durch: Auf der einen Seite Jerry, der wie ein ewiges Kind begeistert das annimmt, was sich ihm gerade bietet, auf der anderen Bud, der sich erst einmal in Prozentzahlen die Wahrscheinlichkeit ausrechnet, mit der das Ganze schief gehen wird. Obwohl der Ich-Erzähler Bud das anders empfindet, ist keiner dem anderen überlegen, sie sind wie Pole einer Batterie, die zusammengehören. Beide, und das macht sie als Figuren interessant, haben nicht nur eine Seite, sondern mehrere: Jerry ist nervtötend und liebenswert gleichermaßen, ein vom Applaus seines Publikums abhängiger Mittelpunktstürmer und dabei von Selbstzweifeln und Stimmungsschwankungen geplagt. Bud ist zwar langsam und tollpatschig, aber er kann auch den Tourbus einer Handballerinnen-Mannschaft reparieren. Er ist schüchtern und ein bisschen wehleidig, und er ist zu intensiven Gefühlen fähig und mit komplexer Phantasie begabt. So ist es durchaus glaubwürdig, dass die über 300 Seiten adorierte Maggie ihre Zuneigung nicht Jerry, sondern Bud signalisiert. Schön, dass in einem Jugendbuch einmal der Dicke Erfolg hat und sogar dick bleiben darf.

„Am Haken“ liest sich ausgesprochen witzig, mit großem Vergnügen folgt man den beiden sympathischen Anti-Helden durch ihre von absurden Situationen strotzende Woche, die im Buch den strukturellen Rahmen vorgibt. Jedes Kapitel repräsentiert einen Tag, dem eine Fischvariation gewidmet ist – von der Mini-Plötze am Montag bis zum Riesenhecht am Sonntag. Überhaupt ist in diesem Buch viel von Fischen und vom Angeln die Rede, in den Text integriert sind sogar Passagen aus dem fiktiven Buch „Der Fisch meines Lebens“, in dem Ewo augenzwinkernd mit der titelgebenden Metapher und dem Motiv der Jagd nach dem einen großen Augenblick spielt.

Der Roman ist eine überzeichnet-komische, begeisterte Hommage an Individualität und Intensität, Lebensfreude und Neugierde. Sei, wie du bist, probier alles Mögliche, leb die verschiedenen Seiten in dir aus. „Das Leben ist ein Menü. Es gibt keinen Grund, bereits bei der Vorspeise aufzuhören.“

Karin Haller