
Judy I. Lin: A Magic Steeped in Poison
Ning ist ein ganz normales Mädchen, ist Lehrling in der Kunst der Tee-Magie und wird hineingezogen in den Machtkampf um einen vakanten Thron.
„Im hinteren Teil des Vorratsraumes finde ich, wonach ich gesucht habe: die Shénnóng-shi-Truhe meiner Mutter, in einem Eckschrank vor Blicken geschützt. Ich öffne sie, und mit einem Seufzer schlüpfen Erinnerungen unter dem Deckel hervor, als hätten sie dort, in der nach Tee duftenden Dunkelheit, auf mich gewartet. (…) Diese Truhe ist eine Landkarte meiner Mutter (…), ihrer Geschichten, ihrer Magie.“
Nings Mutter war eine Shénnóng-tú, eine Tee-Magierin, nun ist sie tot, vergiftet. Und Nings Schwester Shu kämpft um ihr eigenes Leben. Daher nimmt Ning verbotenerweise Shus Platz als Mutters Lehrling ein und reist in die Hauptstadt Jiá zu einem Wettbewerb, den die Prinzessin für alle Shénnóng-tú des Reiches ausgerufen hat. Wenn sie gewinnt, kann sie vielleicht Shus Leben retten.
Was Ning dort in Jiá erwartet, ist in jeder Hinsicht das Gegenteil zum Leben in der Provinz, wie sie es bisher kannte. Das impulsive und wenig strategisch denkende Mädchen muss nicht nur die Prüfungen im Rahmen des Wettbewerbs bestehen, bei dem jede Runde und jede Tee-Zeremonie ein Kampf um Leben und Tod ist, sondern sich im Wirrwarr der politischen Intrigen am Hof zurechtfinden. Wo es ebenfalls um nichts anderes als das Überleben geht.
Denn das Reich Daxi steht vor einer Zeitenwende: Nach dem Tod des Kaisers, der zunächst noch geheim gehalten wird, entbrennt der Kampf um den Drachenthron zwischen seiner Tochter, Prinzessin Li-Ying Zhen, und seinem Bruder, dem verbannten ehemaligen Prinzen. Ning wird, ohne es zu wollen, in diese Machtkämpfe hineingezogen und weiß nicht, wem sie trauen kann. Vor allem die Rolle von Kang, dem Sohn des verbannten Prinzen, bleibt unklar. Wer steckt hinter den Gift-Attentaten, denen auch Nings Mutter zum Opfer fiel? Was hat Kang vor? Sagt er die Wahrheit? Und was empfindet er wirklich für Ning?

In „A Magic steeped in poison - Was uns verwundbar macht”, dem ersten Teil der jugendliterarischen Fantasy-Dilogie von Judy I. Lin, tauchen wir tief ein in eine farbenprächtige, detailreich ausgestaltete Welt voller Mythen und faszinierender Räume.
Die in vielen Variationen beschriebene Tee-Magie geht weit über billiges Entertainment hinaus. Shénnóng Magie vermag Gefühle zu erwecken, den Trinkenden dazu bringen, sich an etwas längst verloren Geglaubtes zu erinnern. Sie kann die dunkelsten Geheimnisse enthüllen und die Wahrheit von der Lüge trennen, sie kann dabei helfen, die innere Stärke zu entfalten, sie kann Leben retten. Ning hat instinktiv Zugang zu dieser Magie, die ihr in so manchen Gefahrensituationen und natürlich im Wettkampf hilft.
Ohne die anderen klugen Frauen, die sie im Palast kennenlernt, würde sie es jedoch nicht schaffen. Sie verfolgen zwar alle ihre eigenen Ziele, aber bekämpfen sich nicht, sondern unterstützen einander sogar. Hier wird auch die Geschichte von weiblicher Solidarität erzählt, von Freundschaft und Wahlfamilie.
Doch die Charaktere und der Plot standen, so die aus Taiwan stammende, nun in Kanada lebende Autorin, nicht am Beginn ihres Schreibens: Es war der Entwurf dieser besonderen fantastischen Welt und Lins großes Interesse an den unzähligen verschiedenen Tee-Zeremonien. Das führte in weiterer Folge zu immer tiefer gehenden Recherchen über die chinesische Mythologie und Geschichten, die sich weit über die Grenzen Chinas in vielfältigen Abwandlungen wiederfinden. Das fundierte Wissen Lins grundiert diesen Roman, der mythische Erzählung, real anmutendes politisches Drama und Liebesgeschichte in einer sehr poetischen und dabei spannenden Atmosphäre zusammenbringt. Sie schreibt mit bilderreicher Intensität und einem Detailreichtum, bei dem jedes Blatt, jede Tasse und jede Speise - deren Rezepturen ein Kochbuch füllen könnten – seine Bedeutung hat.
„A Venom dark and sweet“, der zweite und abschließende Band, fand sich im englischen Original so wie der erste Teil innerhalb kürzester Zeit auf den Bestseller-Listen wieder und wurde von Goodreads bis hin zur New York Times gefeiert. Die deutschsprachige Übersetzung ist schon für diesen August angekündigt. Noch nie hat der alte Spruch vom „abwarten und Tee trinken“ so viel Sinn gemacht.