Malagash

Eine ungewöhnliche Erzählung über Familie, Tod und Trauer

Malagash ist die Heimatstadt von Sundays Vater, eher eine lange Straße an der Nordküste von Nova Scotia als ein Ort. Dorthin ist die Familie – Sunday, die erzählt, ihr kleiner Bruder Simon, die Mutter und der Vater, jetzt gezogen. Weil letzterer am Ort seiner Kindheit sterben will. Der Krebs ist überall in seinem Körper. 

Das ist die Ausgangslage einer schmalen Erzählung über Angst, Wut, Abschied, Trauer. Morgen für Morgen fahren Sunday, Simon und die Mutter ins Krankenhaus,verbringen dort Zeit mit dem Sterbenden, um sich jeden Abend zu verabschieden: »›Auf Wiedersehen für immer‹«, sage ich. Unser geheimes, nächtliches Ritual.« Was anfangs keiner von den anderen weiß: Sunday nimmt alles, was der Vater sagt, mit dem Handy auf. Im Haus der Großmutter teilt sie sich mit dem Bruder ein winziges Zimmer. Dort zieht sie sich in einen Schrank zurück, wo sie zusammengekrümmt die Aufnahmen des Tages anhört, schneidet, alle Files in einer Datenbank archiviert, die Worte des Vaters – banale wie zugewandte, Worte des Trosts ebenso wie seine schlechten Witze – transkribiert, in einen Code umwandelt, den sie als Computervirus in die Welt hinausschicken will. Später wird sie Simon einweihen und auch er wird im Kasten hocken und sich die Worte des Vaters immer wieder anhören. 

Als die drei schließlich eines Morgens ins Krankenhaus kommen und der Vater tot ist, ist das – obwohl darauf die ganze Zeit gewartet wurde – ein Schock. Sogar für die Leser*innen. Wohl auch weil die ersten drei Teile (von insgesamt vieren) wie eine Fuge funktionieren: Motive, Sätze, Muster, auch Bilder, Bewegungen und Gespräche der Figuren werden in dem leisen Text ständig wiederholt, mit sanften Verschiebungen in der Tonhöhe, leichten Veränderungen, die vor allem die Distanz und Nähe der Figuren zueinander betreffen. Das – und der absurde Humor, der sich immer wieder Raum schafft –, macht es überhaupt erst möglich, lesend in die intime Situation einzudringen. Wobei man ohnehin den Eindruck hat, nicht alles zu verstehen, nicht alle Codes zu kennen, die diese Familie in ihrem gemeinsamen Leben entwickelt hat und die jetzt in der existentiellen Krisensituation wichtig sind. So bleibt man immer in einer angemessener Distanz zu den Protagonist*innen. Überraschend ist, dass der kanadische Autor Joey Comeau durchwegs ohne Pathos auskommt. Und dass der vierte Teil, nach dem Tod des Vaters, leicht, fast schwere- los wirkt. Als ob jetzt das Leben zurückkommen könnte, nachdem das ständige gleichzeitig sich Aufbäumen und Abfinden vorbei ist.
Die ungewöhnliche Erzählung über Familie, Tod und Trauer wurde im März 2022 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, der wichtigsten Auszeichnung für deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur. Erschienen ist »Malagash« in der Übersetzung von Tobias Reußwig im Wiener Luftschaft Verlag, wo zwei weitere Bücher des Autors lieferbar sind.

Franz Lettner

 

comeau malagash

Joey Comeau: Malagash

Aus dem Englischen von Tobias Reußwig
Wien: Luftschacht 2021 | 138 S. | € 18,00 | ab 14 Jahren

Dieser Buchtipp erschien zuerst in "1001 Buch"