Leming

»Reinhold hatte nicht nur einen Scheißnamen, sondern auch einen tiefergelegten Audi A3.« – mit dem ersten Satz setzt Murmel Clausen nicht nur den Ton seines Coming-of-Age Romans, sondern auch eine Automarke in Szene, die bislang in der Roadfiction keine Rolle gespielt hat.
Nach diversen VW-Bussen (etwa Tamara Bachs »Busfahrt mit Kuhn«), einem Lada (Wolfgang Herrndorfs »Tschick«), einem Opel Corsa (Sarah Jägers »Nach vorn, nach Süden«) oder einem Nissan (Elena Fischers »Paradise Garden«) ist es hier ein lilafarbener getunter Audi in dem Kolja, Verena und Reinhold sich von Deutschland aus nach Ungarn aufmachen. Nicht wegen eines Musikfestivals, um einen Vater zu suchen oder der Verwandtschaft wegen, auch wenn das Haus von Verenas Opa am Plattensee Anlaufpunkt ist, sondern um sich von einem Felsen eines erloschenen Vulkans in den Tod zu stürzen. Aufeinander gestoßen sind die drei in einem Suizid-Forum im Internet: Der 18-jährige Reinhold mit einem wegen eines angeborenen Gendefekts zerknautschten Gesicht und einer Mutter, die ihn schon als Kind als Monster bezeichnet hatte; die 16-jährige Verena, deren Vater dafür verurteilt wurde, die Mutter vom Balkon geworfen zu haben, und der ebenso alte Kolja, aus dessen Sicht erzählt wird. Ihn hat Murmel Clausen mit einer halbwegs »normalen« Biografie ausgestattet: Scheidungskind und ein bisschen Außenseiter – kein Grund, sich umzubringen, das sieht er auch selbst so. Im einschlägigen Forum war er nur zu Recherchezwecken: Als sein pedantischer Vater wieder einmal wegen einer Kleinigkeit ausflippte, hatte Kolja die Phantasie, sich – als Rache – im strahlend weißen väterlichen Badezimmer die Pulsadern aufzuschneiden. Seitdem ist der Junge als eine Art guter Geist im Suizid-Forum unterwegs – und hat sich der Reisegesellschaft angeschlossen, um die beiden anderen von ihrem Vorhaben abzubringen …

Die Stimme, die der deutsche Drehbuchautor seiner jugendlichen Figur einschreibt, passt gut zu ihr: Unmittelbar, nie übermäßig reflektiert oder gar elaboriert, eher hier und da ein bisschen umständlich, aber immer glaubwürdig; nicht unangemessen witzig und schon gar nicht ironisch. Aber in die Grundstruktur der Handlung legt Murmel Clausen (der u.a. an Bully Herwegs »Der Schuh des Manitu« mitgeschrieben hat) doch eine gewisse Komik, die immer wieder in kleinen Situationen wirksam wird. Was zudem wichtig ist: Es gibt kein Pathos, wodurch auch kein Gefühl von Peinlichkeit aufkommt, weder auf Seiten der Figuren noch beim Leser.
So gelingt eine ungewöhnlich »normale« Geschichte abseits jeder Problemorientierung, der eine eigene Art von Schönheit innewohnt.

Franz Lettner

Murmel Clausen: Leming

Murmel Clausen: Leming

Berlin: Voland & Quist 2024, 204 S., € 18,50, ab 14 Jahren

Dieser Buchtipp erschien zuerst in "1001 Buch"