
Igalus
Karottenballett werden in Wien die ehrenwerten Mitglieder der MA 48 – zuständig für die Abfallwirtschaft – auch genannt, wegen ihres Tanzes durch die Straßen und Hausflure, den sie orange gewandet frühmorgendlich aufführen. Daran musste ich angesichts des neuen Bilderbuches von Marije Tolman denken. Trägt doch die titelgebende Hauptfigur, ein kleiner Igel namens Igalus, nicht nur eine neonorange Warnweste, sondern sorgt auch dafür, dass Wald, Berge und Strand frei von Müll sind. Es ist eine Sisyphusarbeit, sind doch die Anderen – Vögel, Bären, Krokodile, Nashörner … – fürchterlich beschäftigt: »Alles und jeder wollte höher, schneller, weiter, größer, schöner, mehr sein!«, hastet dementsprechend und ziellos durch die Landschaft, dabei Plastikflaschen sonder Zahl hinterlassend. Kein Wunder, dass Igalus irgendwann erschöpft unter der Last des Mülls auf seinen Schultern zusammenbricht. Dass diese kleine Geschichte ihrerseits nicht unter der Bürde ihres pädagogischen Auftrages kollabiert, vielmehr fröhlich leuchtet, liegt an ihrer Ausgestaltung. Zum einen wird sie in einen Rahmen gestellt: Auf der ersten Doppelseite sind links ein Krokodil und ein Pfau entspannt lesend auf einer Waldlichtung zu sehen, rechts sitzen und liegen mehr als ein Dutzend Igel jeden Alters mit Büchern in den Händen rund um einen Ofen. »›Opa, kannst du uns die Geschichte aus der Sauseschrittzeit noch mal erzählen?‹, fragt das kleinste Igelkind. ›Natürlich‹, lächelt Opa. ›Natürlich.‹« Ein unglückseliges Zeitalter wird also im Rückblick aus einer glücklicheren Gegenwart beschworen.
Für die entscheidende Entlastung sind die Illustrationen verantwortlich. Wie schon in ihren letzten Bilderbüchern »Der kleine Fuchs« (Text: Edward van den Vendel) oder »Die Eiche und der Federschopf« (Text: Bibi Dumon Tak) kombiniert Marije Tolman ganz analog Druckverfahren mit Zeichenmaterialien: Radierungen sowie Fotographien und Risographien von Wald-, Wiesen- und Dünenlandschaften dienen als Hintergründe. Auf ihnen zeichnet und malt die niederländische Künstlerin in hellen Farben ihre kleinen Tierfiguren und entwickelt die Handlung. So entsteht eine eigenwillige Atmosphäre, die hyperrealistisch und märchenhaft zugleich anmutet. Dazu kommt ein knapper, schnörkelloser Text ohne jeden Appellcharakter. So wird aufs Schönste eine Utopie beschworen, ohne den jungen Leser:innen allein die Last für ihre Realisierung zuzumuten.
Franz Lettner

Marije Tolman: Igalus – Eine Geschichte aus der Sauseschrittzeit
Hildesheim: Gerstenberg 2024, 32 S., € 15,50 ab 4 Jahren
Dieser Buchtipp erschien zuerst in "1001 Buch"