Die Stadt für alle

Seit der Antike gibt es Städte, aber bis 2008 lebten die meisten Menschen jenseits von deren Grenzen. Erst in den letzten Jahrzehnten ist der Urbanisierungsgrad deutlich gestiegen, jetzt sind schon mehr als die Hälfte aller Menschen Städter, 2050 werden es drei Viertel sein! So viele Menschen verbringen ihr ganzes Leben in der Stadt – eine Auseinandersetzung mit ihr findet aber abseits von Fachgruppen kaum statt, schon gar nicht unter jungen Stadtbewohner:innen. Das aus dem Tschechischen übersetzte Buch »Stadt für alle« bietet sich nun als hervorragender Ausgangspunkt dazu an. Allein die Fotos der Stadtmodelle, die zwei Künstler für dieses Projekt gebaut haben, sind umwerfend: Mit unterschiedlichsten Materialen – Pappe, Papier, Verpackungsmittel, Draht und Schnüre, Trinkhalme, Zuckerstücke … – und diversen Fundstücken haben sie beeindruckende Stadtlandschaften hergestellt. Ihre Begeisterung ist spürbar, sie wird in der Einleitung des Autors, er ist Architekt und Dekan der Fakultät für Kunst und Architektur an der TU in Liberec, explizit gemacht: Die  Stadt ist für ihn eine der großartigsten Erfindungen der Menschheit, sie mache »die Menschen gebildeter, reicher, gesünder und glücklicher«.

Auf dieser Grundlage wird in den folgenden 15 dichten Kapiteln die Stadt vermessen: Funktionen unterschiedlicher Stadtviertel, Umgang mit öffentlichem Raum, Besiedlungsdichte, Brachen, Wohnungsbau, Immobilienspekulation, Gentrifizierung, Suburbanisierung, Verkehr und Transport, Umweltprobleme oder Partizipation sind die Themen, historische Entwicklungslinien werden mitgedacht, konkrete Beispiele benannt. Die Offenheit des Systems Stadt, die Notwendigkeit ihrer ständigen Veränderung unter Beteiligung der Bewohner:innen, auch die entsprechenden Potentiale werden in der Erzählhaltung klar – und in der Gestaltung, die dem Urbanen entspricht: Fette schwarze Typografie mit roten Hervorhebungen, s-w-Zeichnungen, Fotos der Modelle, auch in Ausschnitten, alles dicht an dicht, dazwischen Weißraum – die Brache des Gedruckten. 

»Die Stadt für alle« ist ein Buch für (Schul-)Bibliotheken, und jedenfalls auch für hellwache Stadtbewohner:innen, die ihren Lebensraum verstehen und gestalten wollen

Franz Lettner

 

okamura stadt

Osamu Okamura (Text), David Böhm & Jiří Franta (Ill.): Die Stadt für alle

Handbuch für angehende Stadtplanerinnen und Stadtplaner
Aus dem Tschechischen von Lena Dorn. Karl Rauch Verlag 2022, 176 Seiten, € 25,70, ab 10 Jahren

Dieser Buchtipp erschien zuerst in "1001 Buch"