
Der Bär liebt Gänse und der Fuchs auch
Dass Füchse eine Vorliebe für Gänse haben und diese auch gerne mal rauben, davon handelt ein allbekanntes Kinderlied. Darauf Bezug nimmt das Vorsatzbild dieses textlosen Bilderbuchs, wo ein verschmitzt dreinblickender Fuchs zwei empörte Gänse aus einem stillen, nächtlichen Seeufer-Idyll entführt. Trotz dramatischem Einstieg erfolgt daraufhin ein prompter Wechsel von Szene und auch Erzähltempo: Ein kuscheliger Braunbär entsteigt in Pyjamahose gähnend einem Campinganhänger im Wald. Vor seinem Gefährt hat er sich mit Holzherd, Lesesessel und Esstisch ein gemütliches Plätzchen eingerichtet. Das Kalenderblatt zeigt Mittwoch, darauf abgebildet ein Huhn und eine Gans. Geflügeltag?
Mit Jägerhut und Umhängetasche macht der Bär sich auf zum Markt, wo alle Tiere sich mit ihren Verkaufsständen auf bestimmte Handelswaren spezialisiert haben. Beim Schwein gibt’s Pilze und Trüffel, beim Eichhörnchen Nüsse, der Pinguin verkauft Eis und der Biber hat die besten Baumstämme. Der Bär erledigt seine Besorgungen, kauft frisches Gemüse – natürlich bei den Hasen – und schlussendlich wird beim Fuchs am Geflügelstand (man erinnere sich an die Vorsatz-Szene) eine prächtige Gans erstanden und nach Hause getragen. Diese scheint damit so gar nicht einverstanden, wehrt sich. Denn alles deutet darauf hin: heute steht Gänsebraten auf der Speisekarte. Doch von Seite zu Seite wird immer klarer, dass die Pläne des Bären ganz andere sind. Und es sich hier um ein sich stets wiederholendes Spiel zwischen zwei Raubtieren handelt, die die im Titel erwähnte »Liebe« ganz unterschiedlich zeigen. Denn nach dem Servieren einer köstlichen Gemüsesuppe bringt der Bär die Gans wieder behutsam an den Teich zurück – und kann es sich abends zufrieden im Lesesessel gemütlich machen.
Ganz ohne Worte erzählt Kai Würbs, mit überraschenden Wendungen und auch ein bisschen Nervenkitzel eine spaßige Tiergeschichte. Die Szenerien vor ausladendem Weißraum lenken die Aufmerksamkeit auf das Wesentliche. Oft wird in Details hineingezoomt, Emotionen und Interaktionen der Tiere durch Blicke und Mimik abgebildet. Mit dem Bären als soziale, gutherzige Seele und dem Fuchs als kaufmännisches Schlitzohr erweist sich die Figurenzeichnung vielleicht als stereotyp, aber durchaus charmant.
Verena Weigl
