Alison McGhee: Ich lebe, lebe, lebe

„Ivy und ich hatten einen Unfall“. Wieder und wieder durchlebt Rose den Moment, seit dem ihre ältere Schwester mit Hirntrauma im Koma liegt.

Übersetzt von Birgitt Kollmann
München: dtv 2012


„Ivy und ich hatten einen Unfall“. Wieder und wieder durchlebt Rose den Moment, seit dem ihre ältere Schwester mit Hirntrauma im Koma liegt. Der Moment, in dem sie aus der Zeit fielen. Seither nimmt die Siebzehnjährige sich selbst und ihre Umwelt fragmentiert, in Einzelteile zerlegt wahr, jede noch so kleine Handlung bedarf einer Überwindung: „Da sind die Stufen am Schulbus. Den rechten Fuß auf die unterste stellen. Geh durch den Gang. Da ist ein freier Platz. Setz dich.“ Alison McGhee´s neuer Jugendroman „Ich lebe, lebe, lebe“ ist ein Lehrbeispiel dafür, wie die formale Gestaltung eines Textes die Figurenzeichnung zu hoher Intensität verdichten kann. Zu Beginn der Erzählung ist Roses Dissoziation so groß, dass sie sich selbst nicht einmal in der ersten Person wahrnimmt.

Einen Monat lang saß sie am Krankenhausbett, umsonst darauf wartend, dass Ivy wieder aufwacht. Doch nun muss sie wieder in die Schule, ihr „normales Leben“ wieder aufnehmen – ein Leben, das weit von jeder Normalität entfernt ist. Nichts kann den Schmerz erträglicher machen, schon gar nicht der gefühllose Sex mit irgendwelchen Jungs, in dem sie ihre Entfremdung von sich selbst an die Spitze treibt. Sich selbst am nächsten ist sie bei Ivy, jeden Nachmittag ist sie im Pflegeheim und liest ihr vor; neben ihr William T., ein alter Nachbar, der sich um die Familie kümmert, seitdem der Vater vor Jahren weggegangen ist. Er spricht mit Rose, statt hinter ihrem Rücken über sie. Er und Tom Miller, der Junge, der sich von ihrer Härte nicht abschrecken lässt und es schafft, ihren Panzer aufzuweichen – diese beiden sind die einzigen, die die Sprachlosigkeit im Angesicht des Unglücks überwinden und Rose stützen können. Alle anderen sind hoffnungslos überfordert.

Die Wochen vergehen, Rose führt längere Gespräche mit William T. und kurze mit Tom und stumme Dialoge mit ihrer Schwester. Und immer wieder überlegt sie, worauf sie verzichten würde, um Ivy wieder zurück zu bekommen. Als sich dieses Gedankenexperiment auf die Frage konzentriert, ob sie auch auf ihr eigenes Leben verzichten würde, begreift und akzeptiert sie, dass Ivy tot und sie selbst, Rose, diejenige ist, die lebt.

Alison McGhee erzählt vom Verlust der eigenen Identität durch den Verlust eines geliebten Menschen und vom langsamen, schmerzvollen Prozess der Rekonstruktion dieser Identität – ein Prozess, der ohne die Untersützung verständnisvoller Menschen nahezu unmöglich scheint.

Der Text verhandelt zentral die Frage, wie Menschen auf extremes Leid reagieren, wie es sie überfordert, wie sie es bewältigen können. Dabei wird deutlich, dass es im Umgang mit dem Unglück kein „richtig“ oder „falsch“ gibt, dass sich in Extremsituationen moralische Standpunkte auflösen können. Dass die Mutter und auch Ivys Freund Joe zunächst nicht einmal ins Pflegeheim gehen können, wird mit ungeheuer viel Verständnis für die gequälten Figuren erzählt. Als es Joe dann doch schafft und Ivy besucht, entsteht eine der berührendsten Szenen des Buches.

Cover
Eines Buches, das nicht viele Worte braucht, um Emotionen zu vermitteln. Dabei wird nicht ständig mit Adjektiven um sich geworfen, McGhee konzentriert sich auf die treffsichere Darstellung von Körperhaltungen, Gesten, Bewegungen. Es ist eine ruhige, knappe Art zu erzählen; an den Stellen, in denen die Ich-Erzählerin ihre Selbstentfremdung besonders leidvoll erfährt, sehr kühl, so distanziert, wie es die Perspektive erfordert. Die Autorin bleibt durchgängig im Kosmos ihrer Figur. Wieder und wieder unterbrechen der Satz „Ivy und ich hatten einen Unfall“ und die Erinnerung an diesen Abend den Textfluss, verdeutlicht die Endlosschleife des traumatisierenden Erlebnisses, Roses´ Unmöglichkeit, nicht daran zu denken.

Der Originaltitel „All rivers flow to the sea“ betont das im Buch zentrale Bild, dass manche Menschen wie stehende, andere wie fließende Gewässer sind, der deutsche Titel „Ich lebe, lebe, lebe“ in der hervorragenden Übersetzung von Birgitt Kollmann nimmt wie ein Aufschrei das Ende der Geschichte vorweg. Es ist nicht die Erinnerung an den Unfall, um die Rose´s Denken für immer kreisen wird. Es ist die Erinnerung an ihre Schwester, wie diese in einem Augenblick der Überwindung von Angst größtes Glück erlebte: „Solange ich lebe, werde ich diesen Moment im Ohr haben.“ So sieht ein gelungenes Ende eines sehr gelungenen Buches aus.

Karin Haller